Hype ist laut Duden eine besonders spektakuläre Werbung, eine aus Gründen der Publicity inszenierte Täuschung oder eine Welle oberflächlicher Begeisterung. In diesem letzten Sinne wollen wir das Wort hier verstehen und dabei erst einmal dahingestellt sein lassen, ob es denn wirklich oberflächlich ist.
Es ist eine Tatsache, dass immer wieder mal Themen oder Begriffe in der öffentlichen Debatte auftauchen, hinter denen die Welt die nächste Revolution der Wirtschaftswelt vermutet. Das können manchmal technische Begriffe sein, gerne aus der IT, wie etwa künstliche Intelligenz, E-Commerce oder Digitalisierung oder vor langer Zeit einmal Client-Server als Ablösung des immer noch lebenden Mainframe-Dinosauriers. Gerne nimmt man auch einmal Begriffe aus der Organisationslehre wie Lean-Management oder Agilität und auch Umweltthemen wie Nachhaltigkeit und Co2-neutral. Woher kommen solche Wellen?
Um dies zu verstehen, muss ich Sie zunächst mit dem Konzept einer Waldbrandwissenschaft vertraut machen. Dieses Konzept kommt aus dem Ackerbau in frühen Zeiten. Da hat man erst einmal ein Stück Wald abgebrannt, die Asche in den Boden eingearbeitet und auf der so fruchtbar gemachten Bodenfläche seine Nahrungsmittel angepflanzt. Wenn der Boden sich erschöpfte, hat man das nächste Stück abgebrannt, bis der Wald auf dem ersten Stück wieder gewachsen war und man von vorne beginnen konnte.
Wenn man in einem Wissensgebiet mit endlichen vielen Vorgehensmöglichkeiten arbeitet, entwickelt sich ein ähnliches Vorgehen. In der Didaktik für das Lesen lernen können Sie es im Wesentlichen mit der Ganzwortmethode oder der Einzelbuchstabenmethode versuchen. Deshalb hört der Streit an den Schulen über dies Thema auch nie auf, weil eine Didaktikergeneration alles zur Ganzwortmethode publiziert hat und deshalb weiterzieht und den nächsten Wald abbrennt.
In der Wirtschaft gibt es eine Reihe von beratenden, analysierenden, publizierenden Professionen, die aus rein ökonomischen Gründen immer mal wieder ihr Leitthema wechseln müssen. Wenn eine Unternehmensberatung allen Kunden erzählt hat, man müsse nun zentralisieren, endlich Doppelfunktionen eliminieren, Effizienz gewinnen, größere Einkaufsmacht gewinnen durch zentrale Beschaffung etc., dann braucht man nach einiger Zeit ein neues Thema. Also stellt man nach circa vier Jahren engagierter Zentralisierung das revolutionäre Konzept der Dezentralisierung vor. Mehr Flexibilität, schnellere Entscheidungen, Entscheidunskompetenz näher am Kunden. Um dann nach weiteren vier Jahren vielleicht die alten Folien über Zentralisierung wieder herauszukramen oder ein neues Waldstück abzubrennen. Ähnliches tun auch Journalisten und Finanzanalysten. So wechseln in regelmäßigen Abständen die Themen und immer wieder einmal passiert es, dass alle diese Branchen auf das gleiche Thema wechseln wie in den letzten Jahren zufällig Digitalisierung. Und dann entsteht, quasi durch Resonanzüberlagerung, weil nun aus allen drei Branchen das gleiche Thema auftaucht, der Hype.
Wenn nun drei Sektoren, bald gefolgt durch den vierten, den Aufsichtsrat, regelmäßig nachfragen, was das Management denn zum aktuellen Hype-Thema zu unternehmen gedenke, dann wächst der Druck, etwas zu tun. Sukzessive erfasst dieser Druck nicht nur die Vorstände des Unternehmens, die in der Außenrepräsentanz immer wieder die Nachfragen bekommen: „Und was macht ihr mit Digitalisierung?“ Auch das Management auf den Ebenen darunter wird langsam bei neuen Investitionsprojekten dieser Frage ausgesetzt. Da heißt es dann: „Was zahlt diese Investition auf das Thema Digitalisierung ein?“
Wenn Hype-Zeit ist, sollte man keinesfalls glauben, das Thema ignorieren zu können. Selbst wenn man nach intensiver Analyse zu dem Schluss gekommen ist, dass es im Moment in der Branche keine Rolle spielt, es andere Prioritäten gibt, das eigene Unternehmen in seiner Infrastruktur und seinen Prozessen weitgehend digitalisiert ist, man auf alles vorbereitet ist, … Es nützt alles nichts, man muss etwas tun.
Gerade wenn das Hype-Thema eines ist, bei dem IT eine Rolle spielt, haben die Vorstände in der Regel keine Lust, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Die Neigung ist groß, einen der bekannten Strategieberater anzuheuern, der dann dem Unternehmen sein Standardpaket abliefert. Und so bekommt das Unternehmen einen Chief Digitalization Officer, eine neue Stabsabteilung und ein Innovationcenter in einem alten Fabrikgebäude, wo man im schicken Halbfertigdesign auf ungewöhnlichen Möbeln bei Design Thinking und Lego-Spielen die bahnbrechende digitale Innovation sucht. Die Botschafter der neuen digitalen Welt laufen dann eifrig durch die Firma, begleitet vom erwählten Strategieberatern, und nerven alle Unternehmensbereiche mit ihren gutgemeinten Digitalisierungsinitiativen. Klingt dann der Hype endlich wieder ab, weil alle Beteiligten – Stichwort Waldbrandwissenschaft – wieder ein neues Thema suchen – und diesmal natürlich nicht alle das Gleiche – dann klingt der Hype ab und man kann wieder zur Tagesordnung übergehen. Die oft von aussen eingestellten Fremdkörper werden sukzessive abgestoßen. Und selbst wenn die Mitarbeiter für die neue Stabsfunktion von innen kamen, haben sie meist auf ihrem Kreuzzug so viel verbrannte Erde hinterlassen, dass sie im Rest des Unternehmens ausreichend verhasst sind und sie keiner mehr haben will.
Das hat dann zwar Geld und Nerven gekostet und keinen nachhaltigen Effekt gehabt, aber es hat die unterschiedlichen Fragesteller beruhigt und jetzt es ist es ja vorbei und erledigt.
Pustekuchen! Wenn sich Wirtschaftsjournalisten, Finanzanalysten und Strategieberater einig sind, dass irgendetwas ein wichtiges Thema wird, können Sie davon ausgehen, dass was dran ist. Es kann später kommen, es kann nach Branchen unterschiedliches Gewicht haben, aber sie sollten es ernst nehmen. Als die letzte Dotcom/E-Commerce-Blase gegen 2001 platzte, haben außer Otto Versand alle anderen Versandhändler ihre Aktivitäten eigestellt und sind mittlerweile vom Markt verschwunden. Viele große Filialhändler haben viel zu spät ihre Programme wieder aufgenommen und so Amazon den Zeitraum zum Aufbau seiner Dominanz gegeben.
Deshalb sollte man sich mit jeder Hype-Welle ernsthaft auseinandersetzen, aber man sollte niemals das Standardprogramm der Berater übernehmen. Jedes Unternehmen hat auf Grund von Status, Organisation, Branche, Mitarbeitern einen ziemlich einzigartigen Ausganspunkt. Sie müssen sich darum kümmern, aber wirklich Sie selbst müssen sich darum kümmern. Sie können es nicht an jemanden anderen delegieren. An keinen Berater, keinen neuen Stabsleiter, keinen neuen Zentralbereich, sondern Sie als Manager müssen sich dem Thema stellen. Sie müssen versuchen, es zu verstehen, es zu bewerten, für ihren Zuständigkeitsbereich Handlungsoptionen erarbeiten. Und zwar als Manager auf jeder Ebene. Delegieren Sie das auch nicht nach oben und erklären es zum Vorstandsthema, denn die da oben kennen wieder die Einzigartigkeit ihres Bereichs nicht.
Hype ist meist übertrieben, aber wenn alle ein Thema auf dem Radarschirm haben, dann ist immer etwas dran. Es lohnt, sich damit zu befassen. Der Druck auf das Unternehmen wird bei diesen Hypes so groß, dass immer eine Reaktion erfolgen wird. Bevor es eine von außen gestaltete Standardantwort gibt, engagiert euch selbst. Delegiert nicht, weder an den Vorstand noch an eine Zentralabteilung. Die Hype-Themen sind meistens nachhaltig wirksam und verdienen Ihre Aufmerksamkeit als Manager, in jeder Ebene, in jeder fachlichen Zuständigkeit. Kümmern Sie sich, sonst kümmert sich irgendwann jemand anderer um Sie!
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Rainer Janßen | 14.04.2023