Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Serie: Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Teil 28: Die Kunst, Recht zu behalten

Im Nachlass von Arthur Schopenhauer wurde 1860 ein Text mit dem Arbeitstitel „Eristische Dialektik“ gefunden, der von Freunden drei Jahre später publiziert wurde. Meist erscheint der Text heute unter dem damaligen erläuternden Untertitel „Die Kunst, Recht zu behalten“. Denn darum geht es in diesem Text:  Es geht in vielen Diskussionen ja nicht darum, Recht zu haben, also die wirkliche Wahrheit zu vertreten, sondern man will in der Wahrnehmung der Zuhörer die Diskussion gewinnen. In 38 Kunstgriffen beschreibt Schopenhauer Techniken, wie man den Gegner frei von jeglicher inhaltlicher Auseinandersetzung besiegen kann.  

Manche sind sehr aktuell wie etwa Kunstgriff 32: Da empfiehlt er, die Argumentation des Gegners mit einer bei den Zuhörern verachteten Gruppe in Verbindung zu bringen. Heute würde man vielleicht sagen: „Das habe ich von der AFD auch schon gehört“ oder „Frau Weidel hat gestern im Bundestag ähnliches behauptet“. Und im letzten, dem 38sten Kunstgriff empfiehlt er als letzte Maßnahme, wenn einem gar nichts mehr einfällt, den Gegner zu beleidigen, d.h. den Shit-Storm hat er auch schon vorausgedacht. Ich werde im Folgenden einige neue Techniken beschreiben, die mir im Laufe meines Managerdaseins begegnet sind.    

Für die erste Technik versetzen wir uns zurück ins zaristische Russland. Ein Offizier der Zarenarmee ritt eines Tages in ein abgelegenes russisches Dorf. An den Wänden und Toren der Scheunen im Dorf sah er viele aufgemalte Zielscheiben; bei allen war die Zwölf perfekt getroffen. Neugierig erkundigte er sich, wer denn dieser Superschütze sei, um ihn für die Armee des Zaren anzuwerben. Die Dorfbewohner verstanden ihn zunächst nicht, bis ihnen dämmerte, wen der Offizier meinte: „Das war der verrückte Igor. Der ballert immer wild in der Gegend herum und malt dann Kreise um die Löcher in den Hauswänden.“ 

Das klingt recht komisch, ist aber eine gute und oft verwandte Betrugstechnik. Stellen Sie sich vor, Sie schicken einen Börsenbrief an 32.000 Adressen. Bei 16.000 sagen Sie auf dem Titelblatt voraus, dass der Kurs der Aktie A in der nächsten Woche steigt, bei den anderen 16.000, dass er sinkt. Dann schicken Sie nach einer Woche 8.000 jener 16.000 Adressen, welche die richtige Prognose bekamen, den nächsten Brief, dass Kurs B steigt, und an die restlichen 8.000, dass Kurs B sinkt. Das machen Sie so lange, bis Sie nach fünf Wochen den übriggebliebenen 1.000 Adressen, denen Sie nun fünfmal bewiesen haben, dass Sie immer recht haben, ein Abonnementsangebot von 1.000€ schicken – und wenn nur 50 darauf hereinfallen, haben Sie Ihre Unkosten wieder hereinbekommen; jeder weitere, der darauf hereinfällt, ist für Sie ein Nettogewinn. 

Generell lässt sich hieraus für das praktische Leben ableiten: Beschreibe Ziele möglichst vage, wenn überhaupt. Dann kannst du hinterher immer den jeweils erreichten Zustand als Zielerfüllung deklarieren. Die eigenen Ziele ganz präzise zu beschreiben, wobei dann noch nicht einmal eine Menge Voraussetzungen und Nebenbedingungen formuliert sind, ist doch eher ungeschickt. Wenn „normale“ Manager diesen Fehler machen, gefährden sie meist nur ihren Bonus. Wenn große Unternehmensführer diesen Fehler machen, besteht jedoch die Gefahr, dass das Unternehmen selbst der Zielerreichung um jeden Preis zum Opfer fallen wird. Deshalb sind die Unternehmensstrategien von vielen großen Unternehmen bewusst so vage formuliert, damit man eigentlich jedes spätere Handeln als Umsetzung der Strategie feiern kann.  

Hilfreich ist es allerdings in Unternehmen immer, wenn es einem gelingt, dass der große Chef meine eigenen Wunschziele irgendwo in einer Rede zitierfähig ausspricht. So fragte mich einmal ein Kollege, der gerade unsere neue Strategieabteilung aufbaute, nach Input für die Rede unseres CEO auf einer Handelsblatt-Konferenz. Der wollte da auch etwas über IT sagen. Da ich von Bundestagsabgeordneten wusste, dass der größte Teil der Rede im Bundestag unwichtig ist, denn es zählt nur das kurze, knackige 20 Sekundenzitat, das es in die Tagesschau schafft. So habe ich dann viele gefällige Folien geliefert, aber einen zentralen Satz, der so in die Rede und dann auch wörtlich in den Bericht im Handelsblatt übernommen wurde: „Wir verfolgen eine globale IT-Strategie, weil wir unsere global zusammenhängenden Risiken steuern und kontrollieren müssen, aber auch um die gesamten intellektuellen PS unseres weltweitem Expertenteams für unsere Kunden an jedem Ort der Welt auf die Straße bringen zu können!“ Wir haben dies Zitat dann immer wieder benutzt, um in vielen Managerrunden die globale IT-Strategie durchzusetzen.     

Eine weitere gute Technik ist die Schrotflintentechnik. Sie wird gerne von Research-Analysten angewendet, aber auch bei Astrologen wird sie immer wieder erfolgreich genutzt. Man produziert möglichst viele verschiedene Prognosen, die den gesamten Entscheidungsraum möglichst abdecken. Und komischerweise bleibt bei den meisten nur die Schrotkugel, die den Hasen erlegt hat, in Erinnerung. Sie selber lesen sicher keine Zeitung, die Horoskope drucken. Sie kennen auch das Dschungelcamp nicht und essen nicht bei McDonald. Aber fragen Sie mal Menschen, die Horoskope lesen am Abend nach dem Horoskop vom Morgen: Die meisten erinnern sich nur daran, wenn es gestimmt hat. 

Die Schrotflintentechnik setzt jedoch Kreativität voraus und kostet viel Arbeit. Denn ich muss mir, wenn ich einigermaßen verlässlich recht behalten will, eine Vielzahl von Prognosen ausdenken und begründen. Die Prognosen müssen sich dabei in gewissem Sinne ausschließen, damit ich den möglichen Handlungsraum ausreichend abdecke, um einigermaßen zufällig irgendwo die richtige Prognose gemacht zu haben. Für schlichtere Gemüter empfiehlt sich deshalb eine wesentlich einfachere Technik: die Standhaftigkeit. 

Diese Technik wird nach meinem laienhaften Eindruck, den keinerlei wissenschaftliche, empirische Studie belegt, gerne von einigen Großmeistern auf dem Börsenparkett angewandt. Wenn die Kurse oder Indizes im Schnitt jeweils 50% der Zeit nach oben steigen und nach unten fallen, dann habe ich mit der standhaften Prognose „der Kurs steigt“ über die Zeit gerechnet auf jeden Fall zu 50% recht. Und das ist schon eine gute Quote. Mit Standhaftigkeit berühmt werden kann man mit ungewöhnlichen, harten Prognosen. Sagen wir also beispielsweise mal voraus, dass der Goldmarkt oder die Apple Aktie kollabiert. Dann würden das heute die meisten ignorieren. Sollte es aber tatsächlich passieren, würde jeder sagen, der große Börsenweise Janßen hat es ja schon damals gewusst, und vermuten, dass ich über ganz besondere hellseherische Fähigkeiten verfüge. Interessanterweise fragt dann auch niemand nach, was denn meine Kunden der Rat, der lange Zeit falsch war, gekostet hätte. 

Eine weitere sehr gerne genutzte Technik, gute Gründe für die gewünschte Entscheidung zu bekommen, sind Meinungsumfragen. Dabei gibt es zwei grundsätzliche verschiedene Ansätze. Man muss die richtigen Fragen stellen oder die richtigen Leute fragen! So berichtete ein Mönch seinem Mitbruder traurig, dass der Abt ihm das Rauchen beim Beten verboten habe. „Das verstehe ich nicht“, sagte der andere. „Ich habe ihn gefragt, ob ich auch beim Rauchen Beten darf, und er hat es mir erlaubt!“ Etwas realistischer könnten Sie zum Thema Sonntagsarbeit fragen: „Halten Sie es für richtig, dass unter dem Druck der Globalisierung der Familie mit dem Sonntag auch der letzte Freiraum für gemeinsame Aktivitäten genommen wird?“ Oder: „Wäre es nicht schön, wenn Sie ohne Werktagsstress auch einmal am Sonntag in aller Ruhe mit Ihrer Familie einkaufen, Leistungen und Preise vergleichen könnten?“  Die erste Variante wird vor allem in der Politik genutzt, im Management sind wir eher von der zweiten Variation betroffen. 

Was meine ich nun damit, die richtigen Leute zu fragen? Nun, nach einer Umfrage unter 100 Lottogewinnern wurde Lotto zur gewinnträchtigsten Kapitalanlage gekürt! Da sagt natürlich jeder gleich, das ist Schwachsinn. Wenn aber nach einer erfolgreichen Kunstauktion bei Sotheby’s Investition in Kunst angepriesen werden, wundert sich niemand. Dabei tauchen bei Sotheby auch nur die Lottogewinner auf. Die falschen Wetten landen auf dem Müll oder dem Dachboden.  

Ein großer Teil der Management- und Unternehmensberatungsliteratur beruht auf diesem falschen Ansatz. Immer wieder analysiert da jemand 50 Unternehmen oder 50 Unternehmensführer, die mit irgendetwas Erfolg gehabt haben. Daraus filtert man dann eine irgendwie geartete Essenz, die diese Unternehmen erfolgreich machte – und bietet sich dann eilfertig an, die nachgewiesene Best-Practise-Methode allen anderen beizubringen. Was man dabei in aller Regel vergisst (und ich glaube wirklich, dass es meist keine böse Absicht ist, sondern die Autoren einfach keine Ahnung von Statistik haben), dass die Unternehmen, die in der Vergangenheit nach der gleichen Best-Practise-Methode arbeiteten, aber mittlerweile pleite sind oder übernommen wurden, nicht in der Stichprobe sind. Am besten zeigte sich dieser Effekt bei Tom Peters und seinem Weltbestseller „In Search of Excellence“: Nach wenigen Jahren wackelte ein Drittel seiner Musterkandidaten, einem weiteren Drittel ging es mittelprächtig und nur dem Rest immer noch gut. Was Peters dann die Titelstory „Ooops!“ in einer führenden Wirtschaftszeitschrift brachte. Dafür mussten wir dann jede Menge Total-Quality-Management-Programme über uns ergehen lassen. Und deshalb ist es so wichtig, dass Sie selber denken und nicht einfach die Best-Practise nachmachen! 

Karl Popper hat einmal Wissenschaft dadurch charakterisiert, dass sie falsifizierbare Hypothesen aufstellt. In unserer Wirklichkeit bewegen wir uns oft nicht in einem wissenschaftlichen Umfeld. Hypothesen, die dort aufgestellt werden, sind kaum falsifizierbar. Oft bewegen wir uns in einem ähnlich „konkret fassbaren“ Kontext wie der Psychoanalyse oder der Anthroposophie – Gebiete, die Karl Popper damals als nichtwissenschaftlich bezeichnete. Ebenso wenig kann man beweisen, welches Projektvorgehen das geeignetste, welche Betriebsorganisation die richtige ist usw. 

In diesem Umfeld ist die effizienteste Methode, Recht zu behalten, der Beweis durch Behauptung. Bekunden Sie einfach ohne Angabe weiterer Begründungen ihre Wahrheit laut und deutlich. Geben Sie keine Begründungen an, denn Sie wissen ja, dass Sie es nicht beweisen können, aber vor allem ihr Gegenüber es nicht falsifizieren kann. Wenn er Ihnen dann auf den Leim geht und Gegenargumente liefert, dann sind Sie schon auf der Siegerstraße: Sie müsse nur die Lücken in seinen Argumenten suchen – er kann Sie ja nicht falsifizieren – und ihn so bis zur Erschöpfung und Selbstaufgabe beschäftigen. 

Die einzige Gegenantwort, die Aussicht auf Erfolg hat, ist die Spiegelung auch bekannt als Gromyko-Taktik. Der sowjetische Außenminister unter dem damaligen Kremlchef Breschnew hatte sich die langen Debatten im UNO-Sicherheitsrat immer gelassen angehört, war zum Schluss aufgestanden und sagte dann: „Njet!“  Ich habe das auch mal ausprobiert und es hat funktioniert. Wir hatten damals eine Selbstbedienungskomponente in der Personalverwaltung von SAP eingeführt. Da konnten die Mitarbeiter Überstundenauszahlung beantragen, Urlaube oder Weiterbildungsmaßnahmen und vieles mehr. Diese Schnittstelle zu SAP wurde natürlich im Intranet angeboten und die Fachabteilung, die Owner des Intranets war, wollte nun, dass wir die SAP-Schnittstelle umprogrammierten, da alle Intranet-Anwendungen das gleiche Look-and-Feel haben sollten. Ich wurde von meinen Mitarbeitern gebeten, zu einem Meeting mit dieser Fachabteilung mitzukommen. Als dann diese Forderung gestellt wurde, habe ich „Nein“ gesagt. Als man meinte, wir müssten doch wenigstens mal eine Machbarkeitsstudie machen, habe ich „Nein“ gesagt. Nach dem dritten „Nein“ hat man das Muster erkannt und tatsächlich aufgegeben. Hätte ich mich auf eine Diskussion eingelassen, hätte es sicher endlose Diskussionen um Machbarkeit, Kosten, Alternativen etc. geführt.  

Eine besonders schöne Technik, Recht zu behalten, hat mir mein Freund Gunter Dueck gezeigt. Bei vielen Entscheidungen, die man zusammen mit anderen Bereichen im Unternehmen trifft, etwa wenn die IT zusammen mit der Einkaufsabteilung den Dienstleister für das nächste große Projekt aussucht, einigt man sich zu Beginn auf die Bewertungskriterien, die jeweilige Bewertungsskala und die Gewichtung der einzelnen Kriterien für das Errechnen des Gesamturteils. Insgesamt hat man also eine Bewertungsfunktion und der Dienstleister mit dem besten Wert gewinnt den Auftrag. Wenn man nun als IT einen Lieblingsdienstleister hat, mit dem man das Projekt am liebsten machen würde, ist es doof, sich nach dessen Vorstellung mit dem Einkauf zu streiten, dass der überall die besten Noten bekommt. Da merkt jeder die Absicht und ist verstimmt. Deshalb löst man mathematisch das sogenannte inverse Problem: Man sucht Bewertungskriterien, Skala und Gewichtungen, kurz eine Bewertungsfunktion, bei der mein Kandidat einfach gewinnen muss. Und meistens merkt der Einkauf – oder eine andere Partei – nicht, dass sie schon bei der Definition der Funktion beschissen wurde. 

Und wenn alle Stricke reißen, können Sie ja noch mit Statistik arbeiten. Sozusagen frei nach Churchill: „Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe!“ Dabei sind Sie dann aber einem Beweis durch Behauptung aufgesessen. Dieses Zitat weist man nämlich nur in Deutschland Churchill zu. In England würde niemand auf diese Idee kommen. Wahrscheinlich hat es das Reichspropagandaministerium unter Goebbels in Umlauf gebracht, damit die Deutschen Zweifel an den von der BBC veröffentlichten und per Radio auch in Deutschland verfügbaren Abschussstatistiken im Luftkrieg über England bekamen! Denn alle wussten ja, dass Churchill die Statistiken fälschte. Trotzdem ist es hilfreich, sich als Manager in den Grundzügen dieser Rechthabemethode auszukennen. Als Einstieg empfehle ich Ihnen dazu gerne das Büchlein von Walter Krämer „So lügt man mit Statistik“ (Campus Verlag 1997).       

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Rainer Janßen | 02.06.2023

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