Ich habe in meinem Berufsleben in einer Beziehung Glück gehabt: Ich habe immer, auch schon als Doktorand und wissenschaftlicher Assistent an der Uni, später am Forschungszentrum der IBM und dann als Manager ein Einzelbüro gehabt. Wer mich bei Vorträgen oder in Diskussionen erlebt hat, glaubt es vielleicht nicht, aber im Grunde meines Herzens bin ich ein sehr stark introvertierter Mensch.
Ich mag Teambuilding-Workshops nur sehr begrenzt und hasse aus tiefstem Herzen die Spielchen, die da gespielt werden. Ich habe in meiner Kindheit zwar lange Stunden mit Lego gebastelt – ein Flugzeugträger war nach meiner Erinnerung mein Meisterwerk – aber ich finde es absolut kindisch, in Design Thinking Workshops mit Lego den Übergang meiner IT-Organisation in die Cloud modellhaft nachzustellen. Und auch wenn zu meinen Zeiten als Manager die Tür zum Flur und später zum Vorzimmer meistens offen war und jeder reinkommen konnte: Es war mir immer wichtig, die Tür auch einmal zumachen zu können, mich zurückzuziehen und vor mich hin denken zu können. Und zwar hinter blickdichten Wänden!
Mein großes Glück war, dass ich früh genug befördert wurde, bevor all diese Assessment-Center für die Managementlaufbahn etabliert wurden. Bei den vielen schönen Teamübungen wäre ich sicher durchgefallen.
Dabei sind wir heute definitiv in einem Zeitalter der Extraversion. In der Schule kommt man in Deutschland wohl noch als stiller Introvertierter bis zum Abi, in den USA hat man es da schon in der Highschool schwer. Und in der Uni sind heute definitiv die Extravertierten gefragt. Die unverzichtbaren sozialen Netzwerke wie Facebook, Instagram und LinkedIn sind Tummelplatz der Extravertierten und mit dem Dauergeplapper in Twitter kann ein nachdenklicher Introvertierter sicher überhaupt nichts anfangen. Bei den Einstellprozeduren haben sich die Chancen für den Introvertierten vielleicht in letzter Zeit ein bisschen verbessert, seit immer öfter nicht ein menschliches Interview über das Weiterkommen entscheidet, sondern ein Computer.
Man geht davon aus, dass das Verhältnis introvertierter zu extravertierten Menschen in westlichen Kulturen so ungefähr bei 1:2 liegt! Dabei stehen die Introvertierten meist in dem Ruf, etwas verschroben zu sein. Sie scheinen sich abzukapseln, wollen eher für sich sein. Sie sind oft still, wenn sie in Teamworkshops gezwungen werden. Sie scheinen nicht beitragen zu wollen und zu können. Sie schotten sich ab und sind im Open-Space-Büro todunglücklich.
Als Manager sollte man nun nicht dem Fehlschluss erliegen, möglichst beim Einstellverfahren darauf zu achten, dass man diese problembehafteten Nerds gar nicht einstellt. Das wäre ein großer Fehler! Denn natürlich finden sie in dieser Menschengruppe auch furztrockene Zahlenfuckler, Buchhalter und Controller, aber eben auch einen großen Teil der wirklich kreativen Menschen. Viele Maler und Schriftsteller schotten sich ab in ihrem kreativen Prozess, aber auch Spieledesigner, Softwareentwickler etc. Auch unter den Gründern der Technologie-Giganten finden sich erstaunlich viele Introvertierte. Die Start-up Gründer sind oft in die legendäre Garage gezogen, nicht um ein spaciges Alternativbüro zu haben, damit ihre innovativen Ideen sprudeln können, sondern um sich von der dauerquatschenden Restbevölkerung abzuschotten und ihrer kreativen Arbeit endlich ungestört nachgehen zu können.
Es wäre für Sie und Ihre Organisation fatal, wenn Sie gerade die Mitarbeiter vergraulen, die auch einmal längere Zeit am Stück über ein hartes Problem nachdenken. Einen neuen Algorithmus für das Suchen im Internet zu finden, kann ganz schön harte Arbeit sein. Einen neuen Ansatz bei der Analyse von Big Data oder einen neuen Ansatz für das Digitalisieren Ihres Geschäftsmodells zu finden ebenso. Kommunizieren ist da so viel einfacher. Manche Menschen können das sogar ohne dabei Nachzudenken! Aber gerade in Zeiten schnellerer Veränderungen, in denen Sie mehr denn je auf Innovation angewiesen sind, brauchen Sie gerade alle Mitarbeiter, die nachdenken können, Probleme lösen, Neues erfinden. Da ist manchmal ein Nerd hilfreicher als ein Schwätzer. Selbst im Vertrieb, dem Sammelpunkt der Extravertierten schlechthin, empfand ich einen introvertierten Gesprächspartner als Kunde oft sehr erfrischend. Ich habe es sehr genossen, wenn der Gesprächspartner mich nicht gleich mit den üblichen Aussagen überrollt hat, dass mit den tollen Produkten und Dienstleistungen seiner Firma alle meine Probleme sicher gelöst werden können, sondern er sich das ruhig angehört hat, mein Problem mit nach Hause genommen hat und dann mit einem fundierten Lösungsansatz zurückgekommen ist.
Deshalb ist es als erstes einmal wichtig, die Stillen in ihrem Bereich zu identifizieren, die von besonderer Bedeutung für Problemlösungen, kreative Prozesse etc. sein könnten. Versuchen Sie dann um Himmels willen nicht, diese Menschen auf Kurse ihrer Personalabteilungen zu schicken, damit die ihre Kommunikationsschwächen ausbügeln. Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal und kein Know-how-Defizit. Und glauben Sie nicht, dass es da die eine Methode gibt, mit der Sie alle Stillen einbinden können. Sie sind Individuen, die viel mehr als die Extravertierten eine besondere Ansprache brauchen. Und sicher sind auch nicht alle Genies, nur weil sie nicht gerne rumplappern. Manche schweigen auch, weil sie wirklich nichts zu sagen haben.
Besonders wenn Sie selber am oberen Ende der Extravertierten-Skala liegen, müssen Sie erst einmal investieren, um die andere Spezies Mensch verstehen zu lernen. Ich empfehle Ihnen dazu das Buch von Susan Cain: Still. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, die wir uns haben einfallen lassen, um beispielsweise den Innovationsprozess zu fördern wie Design-Thinking, Open Space Büros, Team-Workshops und viele Spielchen, die angeblich das Team-Building befördern, sind bei diesen Menschen eher kontraproduktiv. Wir müssen an vielen Stellen immer wieder darüber nachdenken, wie wir die Stillen einbinden, ihren Input bekommen, ihnen Raum und Stimme verschaffen. Das kostet Arbeit, Vorbereitungszeit, Lernen, aber ich verspreche Ihnen: Der Aufwand lohnt sich!
Ich würde mir ja wünschen, dass man diese so unterschiedlichen Mitarbeitertypen nicht immer über einen Kamm scheren würde und für alle die gleichen Bürokonzepte, Arbeitsformen, Workshops etc. vorsähe. Vielleicht sollten die Personaler ein Projekt zur artgerechten Haltung der unterschiedlichen Mitarbeitertypen durchführen. Denn wenn man alles dem Zufall überlässt, könnte ich mir unter den gegenwärtigen Nach-Corona-Bedingungen eine Entwicklung vorstellen, bei der am Ende die Introvertierten zuhause im Home-Office sitzen und die Extravertierten sich in der Firma im Großraumbüro treffen. Solch eine Entwicklung hielte ich für beide Mitarbeitergruppen für bedenklich – und für die Unternehmen erst recht. Gleichberechtigung müsste aus meiner Sicht nicht unbedingt Gleichbehandlung von gründlich verschiedenen Mitarbeitern nach sich ziehen.
Ich habe einmal ein niederländisches Unternehmen kennen gelernt, in dem man die IT- Infrastruktur für ein wirklich papierloses Büro entwickelt hatte. Die Mitarbeiter durften kein Papier, keine Ordner oder irgendetwas anderes an ihren Arbeitsplätzen zurücklassen, weil sie am nächsten Morgen einen anderen Schreibtisch zugewiesen bekamen. Kandidaten für eine Festanstellung legte das Unternehmen nahe, zwei Probetage dort zu verbringen, bevor sie den Vertrag unterzeichneten. Das ist natürlich eine interessante Möglichkeit, diese stillen Menschen gar nicht erst als Mitarbeiter zu bekommen. Aber wollen Sie sich als Unternehmen wirklich von diesem Potential systematisch abschotten? Ich würde dringend abraten!
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Rainer Janßen | 27.01.2023