Ein Grund dafür, sich immer wieder mit den Zahlen und Kenngrößen zu beschäftigen, ist wohl das verbreitete Gefühl, dass Zahlen für harte Fakten und damit für die Wirklichkeit stehen. Umsatz, Kosten, Gewinn, Auslastungsgrad der Mitarbeiter und Anzahl der verkauften Produkte scheinen anfassbare Größen. Dabei weiß jeder, der einmal einen sogenannten Business Case für ein neues Produkt entwickelt hat, wieviel Vages, Gefühltes, Ungenaues, nicht wirklich Greifbares in die Darstellung eingeht. Trotzdem versucht man immer wieder, wirtschaftliches Geschehen auf Zahlen, Kenngrößen, scheinbar genau Definiertes zu reduzieren.
Hier spielen die Betriebswirtschaftslehre und ihre Entwicklung im letzten Jahrhundert eine große Rolle. Ich persönlich mag ja die alte Bezeichnung für dieses Studium sehr gerne: Diplom-Kaufmann. Diese Bezeichnung legt nahe, dass hier – ähnlich wie bei der Ausprägung der Ingenieurstudiengänge – das Bestreben vorlag, nicht etwa eine neue Wissenschaft zu schaffen, sondern einem eher handwerklich geprägten Berufsbild durch eine akademische Ausbildung auch komplexere Instrumente und Hilfsmittel zu verschaffen, um eben als Ingenieure auch kompliziertere Maschinen und Strukturen bauen zu können oder als Kaufmann auch größere, internationale und immer kompliziertere wirtschaftliche Organisationen aufbauen und leiten zu können.
Es ist zwar verständlich, dass man dabei versucht hat, den Stoff in irgendeiner Form zu mathematisieren, um ihn so „wissenschaftlicher“ aussehen zu lassen. Für viele dieser mathematischen Modelle war der Homo Oeconomicus, der vollkommen rational handelnde Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen, eine wichtige und – wie wir heute wissen – falsche Voraussetzung. Wer sich das Kaufverhalten von Verbrauchern im Supermarkt oder von Teilnehmern am Aktienmarkt ansieht, ist immer wieder erstaunt, wie unglaublich irrational, unvernünftig und selbstschädigend sich Menschen verhalten. Man kann diese Irrationalität auch in vielen Experimenten nachvollziehen, wie man etwa in den Büchern von Daniel Kahnemann oder Dan Ariely nachlesen kann. Und es sind nicht nur die dummen Menschen auf der Straße, die leider kein BWL-Studium haben, die sich so irrational verhalten. Nein, auch die großen Wirtschaftslenker bei ihren Übernahmeschlachten sind oft nicht besonders rational unterwegs. Emotionen, Meinungen, Egoismus und Karrieretrieb, soziale und kulturelle Faktoren spielen eine viel größere Rolle im Leben eines Unternehmens als die Verfolgung der Kennzahlen.
Diese ganzen Themen werden aber meist als „weiche Faktoren“ eingeordnet. Weiche Faktoren sind solche, die scheinbar leicht formbar sind und sich irgendwie den eigentlichen harten Wirklichkeiten anpassen. Eine ganz besondere Rolle unter all diesen weichen Faktoren spielt die sogenannte Unternehmenskultur. Der Begriff Kultur stammt aus der Anthropologie und ist auch dort nicht eindeutig definiert. Man kann sich Unternehmenskultur vielleicht als die Sammlung aller Verhaltensregeln in einem Unternehmen vorstellen, wie man Probleme löst oder Erfolge feiert, wie man miteinander umgeht, wie offen man Fehler anspricht, etc. – den gesamten Komplex „how we are doing things here“! Teile der Unternehmenskultur sind vielleicht formal dokumentiert, aber viele dieser Regeln sind auch nur implizit vorhanden und werden neuen Mitgliedern durch Vorleben, stetiges Korrigieren, freundliche Hinweise etc. beigebracht.
Kultur mag vielleicht schwer zu definieren und als Begriff ein wenig weich und schwammig sein, aber in seiner Wirkung ist das Konzept unglaublich hart und unglaublich widerstandsfähig. In Petersburg und Berlin haben sich die Offiziere früher wegen ihrer Kultur totgeschossen. In Japan haben sie sich wegen der Kultur den Bauch aufgeschlitzt. Nicht alle, aber zahlreiche Priester verzichten ihr Leben lang auf Sex. Und Brüder ermorden Schwestern, um die Ehre der Familie wieder herzustellen. Alles wegen der Kultur.
Und Kultur ist hartnäckig und wie manches Unkraut kaum auszurotten. Sie konnten das beispielsweise 1990 in Jugoslawien studieren. Als die Diktatur verschwand, die über 40 Jahre den Deckel auf dem Dampfdrucktopf der brodelnden Kulturen hielt, kam all das an kulturellen Unterschieden mit enormer Geschwindigkeit und Gewalt zur Explosion, was doch scheinbar gar nicht mehr existent war. Ein japanischer Unternehmensberater, der Ende der 80er Jahre nach Stuttgart kam, um dem in die Krise geratenen Unternehmen Porsche mit japanischem Qualitätsmanagementwissen zu helfen, sagte über seine Erfahrungen mit der Veränderungswilligkeit von Unternehmen: „Unternehmen begehen lieber Selbstmord als ihre Unternehmenskultur zu ändern.“
Beim Profi-Fußball kann man das schön studieren, weil sich da alles quasi in der Öffentlichkeit abspielt und spätestens am nächsten Tag in der Bild-Zeitung steht. HSV und Schalke04 gäben sicher gute Fallbeispiele von Unternehmen, die mit großer Beharrlichkeit die gleichen Fehler immer wieder gemacht haben und kein bisschen veränderungsbereit waren, bis sie dann endlich abgestiegen sind. Auch Handelsunternehmen wie Schlecker und Quelle oder Technologieunternehmen wie AEG und DEC sind am Ende bankrottgegangen oder übernommen worden, weil sie grundlegende Verhaltensweisen oder Unternehmenskulturen nicht ändern konnten. Und wie man in dem schon zitierten Buch von Carroll über den Niedergang der IBM gegen Ende der 80er lesen kann, war diese Veränderungsunfähigkeit wesentlicher Grund für den Niedergang der IBM. Ein Ingenieur aus einem Softwarelabor der IBM hat das mal in dem schönen Satz zusammengefasst: And with amused resignation they ever repeat, what they know will fail!
Deshalb rate ich Ihnen sehr, zwar die harten Fakten nicht aus dem Auge zu verlieren, aber doch die scheinbar weichen Faktoren, die Menschen, das soziale Gefüge, die Unternehmenskultur genau im Auge zu behalten. Das ist für jemanden, der neu in ein Unternehmen kommt, nicht ganz einfach. Manche Dinge bekommt man schon bei den Einstellungsgesprächen erzählt, bekommt sogar vielleicht eine Broschüre über die großartige Unternehmenskultur. Da sollte man dann in den ersten Wochen genau hinschauen, was davon stimmt. Denn meist beschreiben diese Broschüren nur, wie wir gerne wären, aber nicht wie wir sind.
Besonders interessant ist auch, wie mit Managern umgegangen wird, die sich nicht an die kulturellen Leitlinien halten. Man findet etwa folgende Parolen öfter in solchen Broschüren: Unser Umgang ist getragen von gegenseitigem Respekt. Wir teilen unser Wissen. Unternehmenserfolg geht vor Abteilungserfolg. Wenn Sie dann sehen, dass es unter den Kollegen zwei absolute Arschlöcher gibt, die Mitarbeiter wie Kollegen auch öffentlich fertigmachen und mobben und absolute Egoisten sind, denen aber nichts geschieht, weil ihre Abteilungen traumhafte Zahlen schreiben, dann wissen Sie, dass diese Broschüre nur für die Looser gilt, die ihre Zahlen nicht machen. Aber wenigstens können Sie diese offiziellen Verhaltensregeln überprüfen, weil sie offenliegen.
Viel schwieriger ist es, quasi unterbewusste Verhaltensregeln aufzudecken, an die sich jeder hält, die aber jeder für so selbstverständlich hält, dass er sie Ihnen nicht einmal mitteilt. So habe ich nach meinem Einstieg bei der Münchener Rück bald meine Erfahrung mit den sogenannten Sonderzimmern machen dürfen. Dort konnte man mit Geschäftspartnern beim Mittagessen vertraulich weiterdiskutieren und gleichzeitig in hoher Zeiteffizienz ein gutes Essen zu sich nehmen. Ich merkte rasch, dass erwartet wurde, dass ich an der Südseite des runden Tisches saß und mein wichtigster Gast rechts neben mir. Erst über zwei Jahre später erfuhr ich durch Zufall, warum ich dort saß. Da kam nämlich der Kellner auf mich zu und fragte nach meinen Wünschen. Ich sagte ihm, dass alles zu meiner Zufriedenheit sei und darauf sagte er: „Aber Sie haben doch geklingelt!?“ Unter dem Tisch war ein Klingelknopf, mit dem man dem Kellner ein Signal geben konnte und den ich wohl zufällig berührt hatte, aber niemand hatte mir das erzählt, denn das wusste doch jeder.
Gerade diese ganz tief eingegrabenen Verhaltensmuster sind so schwierig zu fassen, weil man zwar mit Ihnen nicht darüber redet, aber Sie diese Regeln aufnehmen, ohne dass Sie selber es so richtig bemerken. Dazu gibt es ein klassisches Experiment in einer Univorlesung. Die Studenten werden instruiert, sich mit dem Nachbarn zu unterhalten, unruhig zu sitzen, zu rascheln, etc., wenn der Professor an der rechten Seite der Tafel steht und konzentriert zuzuhören, interessierte Fragen zu stellen, wenn er links steht. Nach einiger Zeit steht der arme Professor felsenfest links, ohne zu wissen warum. Sie stellen sich also auf viele solcher implizier Regeln ein, ohne dass Sie sich bewusst dafür entscheiden. Deshalb sollten Sie sich mit der Unternehmenskultur eines neuen Unternehmens insbesondere in den ersten sechs Monaten intensiv beschäftigen, danach sind Sie unter Umständen schon blind für manche Dinge.
Jedenfalls sind die Kenntnisse dieser weichen Faktoren für Ihren Erfolg wie auch den Ihres Unternehmens sehr wichtig. Wenn hier Blockaden liegen für neue Vorgehensweisen, neue Geschäftsmodelle, neue Organisationsformen, können diese wesentlich schwieriger zu verändern sein als die vielzitierten harten Fakten. Dazu machen Sie bitte mit mir zum Schluss eine kleine Übung: Falten Sie Ihre Hände zum Gebet. Bei mir liegt dann automatisch der Daumen der rechten Hand oben. Jetzt tun Sie den unteren Daumen nach oben, dann den unteren Zeigefinder usw. Es ist mühsam und fühlt sich am Ende irgendwie falsch an. Jetzt zurück. Den richtigen Daumen wieder nach oben usw. Auch wieder mühsam, aber es fühlt sich dann am Ende richtig an. So geht es Ihnen beim Verändern weicher Faktoren bei Ihren Mitarbeitern: Es ist mühsam, das neue fühlt sich nicht gut an und wenn Sie den Mitarbeitern nicht dauernd auf die Finger schauen, sind die bald wieder im alten Zustand zurück.
Last, but not least: Meiner Meinung nach ist für einen Manager die Beschäftigung mit Sozialpsychologie oft wesentlich hilfreicher als noch ein BWL-Buch zu lesen!
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Rainer Janßen | 12.12.2022