Kennen Sie das? Wenn Sie eine E-Mail bekommen und nach Lesen von Absender und Betreff sofort wissen: Ich mag Dich nicht!? Sie legen diese dann erst einmal beiseite. Irgendwann lesen Sie die Mail und sehen sich bestätigt: Ich mag dich nicht! Und legen sie beiseite. Am Ende erledigen Sie es dann widerwillig kurz vor der Deadline oder nach der ersten Mahnung und haben oft mehr Zeit mit dem Ärgern über die von Ihnen geforderte Arbeit verbracht als die Aufgabe selbst gekostet hat.
Mir geht das jedes Jahr so mit meiner Steuererklärung. Zu Jahresbeginn sammeln sich so langsam die notwendigen Unterlagen und Bescheinigungen auf meinem Schreibtisch, Ende Februar sind sie komplett – und ich ärgere mich bis Mitte Mai, um es dann endlich am Sonntagvormittag fertigzustellen.
Organisationen können das auch. Themen abstoßen, von denen sie grundsätzlich wissen, dass sie angepackt werden müssten, die aber immer wieder verschoben werden. Spätestens, wenn in informeller Runde ein Mitarbeiter sein Statement beginnt mit den Worten „Man müsste mal“ und die Runde zustimmend nickt, sollten bei Ihnen die Alarmglocken klingeln. Dann kreist da wieder ein Thema, von dem jeder weiß, man müsste mal, aber keiner hat Lust, es wirklich anzupacken.
Machen Sie doch einmal die Übung, sich eine Woche lang Ihre „Man müsste mal“ Erlebnisse aufzuschreiben, ob Sie es nur gehört oder auch selbst gedacht haben. Und dann versuchen Sie zu kategorisieren:
Wann immer der Schluss heißt „Keine weitere Zeit verschwenden“, sollten Sie auch daran denken, es Ihren Mitarbeitern zu erklären und ihnen zu vermitteln, warum dies zurzeit kein zu bearbeitendes Thema ist. Und machen heißt nicht unbedingt, es sofort zu machen. Ich kann weiterhin beschließen, meine Steuererklärung Mitte Mai zu machen. Aber dann setze ich mir den Termin in den Kalender, lege die Unterlagen vom Schreibtisch und mache es am geplanten Tag und verschwende vorher keinen Gedanken mehr daran. Dies funktioniert aber nur, wenn Sie es schaffen, wirklich keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden.
Sie werden erstaunt sein, wieviel Kraft dieser Prozess bei Ihnen und Ihren Mitarbeitern freisetzen kann. Es kann sein, dass Sie dabei Hilfe brauchen, weil Themen dabei sind – wie bei mir die Steuererklärung – deren Unvermeidbarkeit Sie zwar einsehen, die Ihnen aber persönlich zuwider sind. Aber das ist meistens machbar. Es gibt sogar Leute, die sich freiwillig ihr ganzes Leben lang damit beschäftigen, Steuerklärungen zu machen. Das ist alles organisierbar und bei den paar wenigen Aufgaben, die noch übrigbleiben, obwohl Sie Ihnen zuwider sind: Machen – Sie dürfen sich meinetwegen abends ein Glas Rotwein mehr gönnen.
Besonders hat mich immer wieder verwundert, wieviel Zeit Menschen und Organisationen damit verschwenden können, Probleme zu diskutieren, für die sie nicht zuständig sind. Ein früherer Chef bei IBM hat mir dazu einmal gesagt, als ich schon wieder unterwegs war, die Welt zu retten, und von Produktentwicklung bis Vertrieb viele Ideen hatte, wie man es besser machen könnte: „Herr Janßen, wenn Sie beim Militär bei der Artillerie eingeteilt sind und nicht bei den Fallschirmjägern, sollten Sie das Kanonenrohr putzen und die Munition bereithalten, aber nicht aus dem Flugzeug springen. Denn wahrscheinlich haben Sie keinen Fallschirm dabei.“ Als ich später für die IT eines Anwenderunternehmens zuständig war, war die Versuchung immer wieder groß, sich auf die vermeintlichen Probleme der Anwender zu konzentrieren, anstatt bei sich selbst aufzuräumen. Es ist ein Verhalten, das anscheinend schon lange im Menschen angelegt ist, sonst hätte die entsprechende Handlungsempfehlung – „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du bar, nicht wahr?“ – nicht Eingang in die Bibel gefunden, aber ich rate ihnen dringend, sich hier zurückzuhalten. Beim Lösen von Problemen anderer können Sie sehr viel Zeit verlieren und noch mehr Streit erzeugen, der auch wieder Zeit kosten wird.
Wenn man es dann geschafft hat, sich auf die Dinge zu konzentrieren, für die man zuständig ist und die erledigt werden müssen, dann muss man nur noch eine Fallgrube umgehen: Nicht zu viel zu machen! Zu diesem Thema wird dann meist sofort die 80/20 Regel zitiert, wonach 80 Prozent eines ins Auge gefassten Projekts in der Regel mit 20 Prozent des Aufwandes für das Gesamtpaket geleistet werden können. Diese Regel geht auf den Italiener Pareto zurück, der Anfang des letzten Jahrhunderts beobachtete, dass damals 80 Prozent des Vermögens auf 20 Prozent der Bevölkerung entfielen. Wenn die Banken sich also nur auf diese Kunden konzentrieren würden, könnten sie doch viel effizienter und profitabler sein. Der Vorschlag wurde von den restlichen 80% der Bevölkerung nicht mit Begeisterung aufgenommen.
Dies ist das eine Kernproblem bei dieser Regel: Wer sagt Ihnen, was die richtigen 80% sind? Wenn Sie im Vorstand ein neues Projekt genehmigen lassen, werden alle einmütig Ihnen die Beherzigung der 80/20 Regel ans Herz legen, aber jeder wird überzeugt sein, dass seine 100% bei Ihren 80% dabei sind! Aber viele Beispiele aus der Praxis zeigen, dass tatsächlich etwas dran ist. Bei der Zusammenführung verschiedener Kapitalanlageverwaltungen meines damaligen Arbeitsgebers in ein neues SAP-System stellte sich einmal eine Anlageklasse als extremer Aufwandstreiber heraus. Diese machte ein Prozent der Anlagen aus und wurde einfach vor der Migration verkauft. Und so konnten meine Mitarbeiter das Gesamtbudget in vernünftigen Grenzen halten. Mit einem gesunden Pragmatismus aller(!) Beteiligten ist da viel zu erreichen. Allerdings sollte die 80/20 Regel niemals die Rechtfertigung für Schlamperei sein! Was immer geliefert wird, muss für die vorgesehenen Fälle funktionieren.
Dennoch wird es immer Fälle geben, in denen nur 100% Sinn machen. Wenn Sie etwa Digitalisieren wollen, ob als Unternehmen oder als staatliche Verwaltung, dann müssen Sie sich darauf verlassen können, dass auch wirklich 100% der Zielgruppe irgendwie einen digitalen Zugang haben. Wenn die Netze wie in Deutschland nicht flächendeckend in ausreichender Qualität und Bandbreite vorhanden sind, wird es in vielen Themenbereichen schwierig.
Aber egal, was Sie auch tun, nehmen Sie sich vor in endlicher Zeit fertig zu werden. Immer wieder sagen Manager wie auch Politiker, dass man noch nicht fertig ist, aber auf gutem Wege. Auch ich habe das mal gegenüber meinem oben schon zitiertem Chef gesagt. Seine Antwort habe ich nie vergessen: „Herr Janßen, wir sind hier nicht in Japan. Der Weg ist nicht das Ziel, sondern Sie müssen auch mal ankommen!“
In diesem Sinne also Ihnen allen viel Freude beim Machen oder wie man in Norddeutschland sagt: Nich lang schnacken, Kopp in Nacken!
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Rainer Janßen | 19.05.2023