Wenn in der Tagesschau mal wieder von einem neuen Sparprogramm eines Großunternehmens berichtet wird, bei dem zehntausend Stellen gestrichen werden sollen, fragt sich nicht nur der Laie, wieso man nicht schon früher etwas gemerkt hat, als es vielleicht nur um tausend Stellen ging.
Dabei kennen das doch viele Menschen – wie auch ich – aus dem täglichen Lebenskampf mit dem Übergewicht. Erst einmal genießt man und freut sich seines Lebens. Man ist ja auch zufrieden, dass man es sich leisten kann, es sich gutgehen zu lassen. Aber es dauert eine erhebliche Zeit, bis man das Problem wirklich wahrnimmt. Wir Menschen sind nicht gut darin, kleine Unterschiede wahrzunehmen. Wir können sie zwar mit Zentimetermaß und Waage messen, aber bis unsere Freundin sagt „Mensch, Du bist aber schlanker geworden!“ oder bis in unserer Jugend die Tante gesehen hat, dass wir gewachsen sind, das dauert. Es gibt Aussagen, dass ein Unterschied zwischen zwei Vergleichsobjekten so bei 15% liegen muss, bis wir wirklich wahrnehmen, dass hier eine andere Größenordnung vorliegt. Deshalb arbeitet auch die weltweit führende Stellenbewertungssystematik von Hay mit diesem Referenzwert. Und ansonsten verfügen wir über wohltrainierte Fähigkeiten der Selbsttäuschung. Glauben Sie mir, ich habe viele Jahrzehnte Erfahrungen mit Übergewicht, ich weiß das.
Wie ich mit meinem Übergewicht umgehe, ist aber letztlich meine Sache. Ich störe vielleicht noch das ästhetische Empfinden eines Mitmenschen, aber ich tue ihm nicht weh. Ob ich höhere Sozialversicherungskosten produziere, wage ich auch zu bezweifeln. Vielleicht sterbe ich ja billig an einem Herzinfarkt und spare mindestens ein paar Jahre Rente! Aber wenn ich als Manager zulasse, dass meine Organisation schleichend verfettet, veraltet oder sonst wie untauglich für den Kunden wird, dann setze ich die ökonomische Existenz meiner Mitarbeiter aufs Spiel. Wenn ich dagegen rechtzeitig auf Veränderungen reagiere, dann kann ich es für alle Beteiligten viel glatter und problemloser gestalten.
Denn es ist ja nicht so, dass die Veränderungen vollkommen überraschend aus dem Nichts über uns kommen, sondern oft mit langem Vorlauf. Das Internet, e-Commerce und die Digitalisierung haben uns nicht plötzlich überfallen, sondern hatten 30 Jahre Vorlauf. Ich weiß das sehr genau, weil ich Anfang der 90er Jahre ein Forschungszentrum der IBM geleitet habe, das sich mit genau diesen Themen befasst hat. Ich bin schon damals durch Bankenkonferenzen gezogen und habe vorgerechnet, dass es doch nicht sein kann, dass wir in Deutschland mehr Bankfilialen als Metzger und Bäcker brauchen. Es kann doch auch nicht sein, dass es erst Tesla braucht, bis die deutschen Automobilkonzerne einsehen, dass es alternative Antriebskonzepte braucht. Und wenn der deutsche Handel mit der einzigen löblichen Ausnahme Otto nach dem Implodieren der dotcom-Blase 2001 glaubte, sich um e-Commerce nicht mehr kümmern zu müssen, um dann Amazon das Feld zu überlassen, dann war das auch ein Versagen des Managements und lag nicht an der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse. Dass der stationäre Handel ohne hybride Konzepte nicht überlebensfähig ist, weiß man auch schon länger. Nun hat Corona das extrem beschleunigt und viele Menschen haben begriffen, dass es den stationären Handel und die Innenstädte gar nicht mehr braucht.
In der Politik beobachtet man immer wieder ein ähnliches Verhalten. Man weiß schon lange, dass es beispielsweise mit unserem Rentensystem und auch den Beamtenpensionen nicht so weitergehen kann. Aber der Bundestag tut nichts. Und Autobahnbrücken werden auch erst erneuert, wenn es absolut anders nicht mehr geht. Und die Unternehmensvorstände schieben die Erneuerung ihrer auseinanderbröselnden Kernverwaltungssysteme auf den Mainframes immer weiter: Soll sich doch der nächste CEO dabei eine blutige Nase holen! Dabei wissen alle, dass diese Altsysteme in Programmiersprachen geschrieben sind, deren Namen junge Informatiker nicht einmal mehr lernen, und die letzten Entwickler, die diese Programme noch verstanden haben, liegen auf dem Friedhof oder leiden an Alzheimer.
Warum tun Führungskräfte dies? Wenn man schon in den 90er Jahren begonnen hätte, Filialen zu schließen, das Netz auszudünnen, wann immer die Personalsituation in einer Bankfiliale etwa wegen einiger anstehender Pensionierungen es erlaubt, wäre vieles ohne große Massenentlassungen gegangen. Vor allem weil man es zu Zeiten getan hätte, als die Gewinne noch sprudelten und man das Geld hatte, es sozialverträglich abzuwickeln. Oder als man noch Zeit hatte, Personal von der klassischen Filialarbeit auf eher digitale Kundenbetreuung umzuschulen.
Eine Ursache sind sicher die Belohnungssysteme oder Neudeutsch die Incentives, die von mir so geliebten Boni! Ein Vorstand hat genau wie ein Bundestagsabgeordneter typischerweise einen Vierjahresvertrag. Wenn in diesem Zeitraum das Rentensystem nicht zusammenbricht wie auch das alte Mainframesystem nicht, dann ist die Wiederwahl wahrscheinlicher, wenn man Unbeliebtes, das erst einmal nur die Bilanz und die Kostenquote verschlechtert, lieber auf die nächste Legislaturperiode verschiebt. Immer frei nach dem Motto: Nach mir die Sintflut!
Nach einem Regierungs- oder Vorstandswechsel fällt es der neuen Führung viel leichter, liegengebliebene Probleme hervorzuziehen. Dann holt man aber auch wirklich alles hervor, was die letzten Jahre unter den Teppich gekehrt wurde. Daraus entstehen dann die großen Transformationsprogramme mit den großen Stellenabbauprogrammen und den massiven Restrukturierungen. Wenn man anschaulich vermitteln kann, dass die Organisation vor dem Abgrund steht und ohne diese Maßnahmen vernichtet wird, sind diese extremen Maßnahmen sogar leichter zu verkaufen – an Mitarbeiter, Eigentümer, Wähler und andere Stakeholder – als die vielen kleinen, rechtzeitigen Maßnahmen.
Wenn ich Filialen schließe zu Zeiten, in denen die Profite noch stimmen, dann fragen Mitarbeiter wie Kunden und Aufsichtsräte, was das denn soll. Wenn ich beginne, in E-Mobilität zu investieren, während die dicken Diesel-SUVs noch verkauft werden wie geschnitten Brot, dann werden sich nicht nur Analysten und Aufsichtsräte beschweren, dass die Profite sinken, sondern auch die erfolgsverwöhnten Entwickler der Dieselsparte werden sauer sein und sich beim Management beschweren, dass die Mittel für die eigene Linie und den dringend vom Vertrieb geforderten ersten SUV, der über 300km/h fährt, nicht mehr so fließen. Die vielen kleinen Einschnitte kosten das Management oft viel mehr Überzeugungsarbeit – auch wenn sie eigentlich gar nicht weh tun – als das große Transformationsprogramm am Ende, wenn ich lange nicht handele.
Es ist also in einem gewissen Sinne verständlich, dass das Management sich auf kurzfristige Ziele fokussiert, weil eben Quartalsziele wie auch die Sonntagswahlumfrage, die vielen KPIs und die Boni unmittelbarer belohnt werden als langfristig nachhaltiges Management.
Dennoch muss man von einem guten Management erwarten, dass es diese Spannungen aushält. Ein guter Manager wird sich nicht damit herausreden, dass er ja gar nicht anders agieren konnte, weil die KPIs und die Boni sein Handeln erzwungen hätten. Denn ein Manager, der sein eigenes Handeln an die ihn steuernden Instrumente abgibt, sollte zügig ersatzlos gestrichen werden. Dieses Handeln gegen den Strom ist nicht immer einfach. Deshalb spreche ich ja im Titel dieses Abschnitts auch von der Kunst, rechtzeitig weh zu tun. Aber man muss mit ihnen auch nicht allzu viel Mitleid haben, denn ein gewisses Schmerzensgeld ist in der Regel in den Managergehältern schon berücksichtigt.
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Rainer Janßen | 17.02.2023