Zu Corona-Zeiten habe ich gelernt, dass ich mich glücklich schätzen muss, eine promovierte Physikerin als Kanzlerin zu haben, denn die weiß, was eine Exponentialkurve ist. Das hat mich nicht wenig verwundert, denn ich dachte eigentlich immer, dass das Verständnis der Exponentialkurve Teil des Abitur-Stoffs in Mathematik war. Mindestens von der Zinseszinsrechnung sollte doch wohl jeder gehört haben. Aber ich gebe zu: Das Verhalten der Exponentialkurve ist ein wenig unanschaulich.
Wenn Ihnen beispielsweise ein Arbeitsvertrag angeboten würde, nach dem Sie für den ersten Arbeitstag im Monat einen Cent bekämen, für den zweiten zwei, für den dritten vier usw., dann wären Sie vielleicht geneigt, den zu unterschreiben. Im Januar mit 31 Tagen wären das schließlich am Ende eine Milliarde Cent oder zehn Millionen Euro! Wenn der Betriebsrat aber darauf besteht, dass am Samstag und Sonntag nicht gearbeitet wird, sind es in einem normalen Februar nur noch rund 5000 Euro. Steht dann im Kleingedruckten noch, dass der Arbeitgeber die 30 Urlaubstage frei verteilen darf und die bayrischen Feiertage gelten, wird das Angebot ziemlich unattraktiv. Das für den Menschen sehr schwer intuitiv fassbare an der Exponentialkurve ist, dass – egal als wie schnell man ein Phänomen in der Vergangenheit wahrgenommen hat – das eigentliche Wachstum, die wirkliche Beschleunigung erst vor einem liegt.
In der IT-Branche wissen wir seit langem, dass wir auf einer Exponentialkurve leben. Gordon Moore, einer der Gründer von Intel, hat 1965 eine Faustformel vorgestellt, nach der sich die Leistung elektronischer Chips alle 18 Monate verdoppeln sollte. Man hat dies später leicht modifiziert auf zwei Jahre Verdopplungszeit. Vielfach wurde vermutet, dass dieser Effekt irgendwann wegen des Erreichens physikalischer Grenzen ein Ende haben würde, aber bisher hat man immer wieder neue technische Wege gefunden – etwa Parallelrechner oder vielleicht demnächst Quantencomputing – um diese Prognose weiter aufrecht zu erhalten. Ray Kurzweil hat in seinem Buch „homo s@piens“ durch Vermessung alter mechanischer Rechengeräte aus dem Mittelalter bis heute sogar gezeigt, dass dieses Gesetz der Verdoppelung schon seit Jahrhunderten Bestand hat. Da war das Wachstum der Exponentialkurve aber so langsam, dass es den Menschen noch nicht wirklich aufgefallen ist.
Wenn man sich allgemeiner die Menschheitsgeschichte und spezieller die Entwicklung von Kultur und Technologie anschaut, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Exponentialkurve viel stärker und breiter die Geschichte des Menschen beschreibt, als es das Beispiel aus der IT-Branche nahelegt. Das Rad in der Wirtschaft dreht sich von Dekade zu Dekade immer schneller. Während meines Berufslebens sind eine ganze Reihe von traditionsreichen Berufen mehr oder minder untergegangen, aber man konnte es doch noch schaffen, um 1980 ein Berufsleben zu beginnen und es im gleichen Beruf und vielleicht sogar bei der gleichen Firma zu beenden. Wer heute etwa als Bankkaufmann bei der Sparkasse oder als Ingenieur beim Daimler beginnt, sollte darauf wahrscheinlich weniger hoffen. Und es ist kein Ende abzusehen: Es wird alles immer schneller!
Was bedeutet diese stetige Zunahme an Geschwindigkeit nun für unsere Arbeit, für unser Leben, unsere Interpretation der Umwelt? Alice spielt im Wunderland einmal mit der Herzkönigin Croquet. Das Spiel ist sehr seltsam, denn immer, wenn sie den Flamingo, der als Schläger dient, zurechtgerückt hat, haben sich Igel, welche die Kugeln waren, wieder aufgerollt oder die von Soldaten gebildeten Tore sind woanders hingewandert: Wie spielt man, wenn sich das Spielfeld dauernd verändert?
Viele Vorgehensweisen, die wir etwa in meiner IT-Branche entwickelt haben, funktionieren so gar nicht mehr. Haben wir früher ein neues Projekt begonnen, dann haben wir uns erst einmal am Markt umgesehen, welche Werkzeuge es für diese Aufgabe gab, haben die Kandidaten verglichen, mit den Spitzenkandidaten vielleicht mal einen Piloten implementiert und dann entschieden, womit wir die nächsten Jahre arbeiten wollten. Würden wir heute so vorgehen, hätte sich am Ende dieses langen Entscheidungsprozesses die Produktwelt in der IT so weit verändert, dass ich direkt wieder von vorne beginnen müsste. Wir brauchen heute im Management Navigationssysteme, die damit fertig werden, dass während der Fahrt die Hochhäuser umziehen. Und meine Entscheidungsprozesse müssen damit fertig werden, dass sich während der Entscheidungsfindung die Entscheidungsgrundlagen ändern. Die Heisenbergsche Unschärferelation gewinnt also auch im Management zunehmend an Bedeutung!
In „Alice hinter den Spiegeln“ beschreibt Lewis Caroll einmal ein Rennen von Alice mit der schwarzen Schachkönigin. Sie rennen und rennen, bis Alice das Gefühl hat, dass ihre Füße den Boden schon kaum mehr berühren. Als sie dann endlich Rast machen, muss Alice feststellen, dass sie nicht von der Stelle gekommen sind, weil sich ihr Umfeld so schnell mitbewegt hat. Denn, so sagt die Königin: „Hierzulande musst Du so schnell rennen, wie Du kannst, wenn Du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!“ Uns hängt schon jetzt die Zunge zum Halse heraus und die Exponentialkurve dreht das Rad der Technologie immer schneller. Wer in diesen Zeiten Manager werden will, muss für diesen dauerhaften Veränderungsprozess bereit sein. Die Zeit der geruhsamen Direktorenposten, in denen man sich mit Dienstreisen, Geschäftsessen und der Auswahl des nächsten Dienstwagens beschäftigte, ist endgültig vorbei.
Nahezu flächendeckend gibt es deshalb mindestens in allen IT-Organisationen Initiativen unter dem Motto Agilität. Man will in allen Prozessen schneller, flexibler, reaktionsfähiger werden. Vor allem die oft unendlich langen Entscheidungsprozesse der Vergangenheit, bei denen etwa alle Eigenschaften eines neuen IT-Systems erst einmal mit allen möglicherweise beteiligten Stakeholdern abgestimmt wurden, sind in dieser neuen Welt nicht mehr akzeptabel. Dies gilt übrigens nicht nur in Unternehmen, sondern auch für unser politisches Entscheidungssystem. An meiner Stammstrecke vom Münchener Norden nach Deggendorf zu unserem Häuschen im Bayerischen Wald hat man es nach 40 Jahren immer noch nicht geschafft, eine Tankstelle an der Autobahn zu bauen. Wenn man mit der gleichen Geschwindigkeit die Ladeinfrastruktur für E-Mobilität bereitstellt, werden wir in diesem Jahrhundert sicher nicht damit fertig werden!
Wir werden uns wohl darauf einstellen müssen, viele liebgewonnene Gewohnheiten im Management einer Revision zu unterziehen und werden in einigen der folgenden Abschnitte auch immer wieder darauf zurückkommen. Es wird wichtiger sein, Trends zu verstehen, als den momentanen Zustand möglichst genau zu erfassen. Wir werden weniger Energie darauf verwenden, einen aktuellen Zustand zu optimieren, als Flexibilität für schnelle Reaktion und Veränderung zu schaffen. Schnelligkeit wird wichtiger sein als absolute Präzision. Produktzyklen von sechs Jahren oder mehr für eine Autogeneration werden obsolet, wenn viele wertschöpfende Elemente des Produkts einen viel schnelleren Produktzyklus haben.
Das soll aber nun nicht allgemeiner Schlamperei und lausiger Produktqualität das Wort reden. Wir wollen nicht zurück in eine Welt, wie wir sie etwa vor 30 Jahren in der IT hatten, als neue Produkte erst ab Version 3.0 so langsam stabil ohne Blue Screen funktionierten. Collins und Porras haben in ihrem berühmten Buch „Built to Last“ (1994, Harper Business) einmal das Konzept des BHAG = Big Hairy Audacious Goal formuliert. Als Musterbeispiel kann das Ziel von Bill Gates gelten: „We want a computer, running Microsoft Software, under every desk and in every home“. Heute könnte man für das A in BHAG eigentlich eher AND statt Audacious einsetzen. Wir wollen Schnelligkeit und Präzision, Flexibilität und Qualität, Wachstum und mehr Profit, usw. Wenn nur die Software schnell kommt, wie bei Tesla, aber die Hardware nicht mehr die Qualität hat wie bei den Premium-Autoherstellern, ist es auch nicht recht. Die Ware soll wie bei Amazon Prime schnell kommen, aber die Aussagen über den Lieferzeitpunkt sollen trotzdem verlässlich sein.
Für die Manager meiner Generation war eigentlich Marathon die Prestigesportart: Durchhaltevermögen und Geschwindigkeit. Möglichst bei einem der berühmten Großstadtevents und wenn es denn für den ganzen Marathon nicht reichte, dann doch wenigstens einen Halbmarathon. Das sollte sich für den Manager von heute eigentlich ändern. Biathlon wäre eigentlich viel eher das richtige Bild für die gewünschte Qualifikation: Die richtige Balance zwischen Schnelligkeit und Präzision finden! Diese Balance ist beim Biathlon je nach Disziplin unterschiedlich. Beim Einzel kostet jeder Fehlschuss eine Minute Strafzeit, da zielt man sorgfältiger, während in anderen Rennen schnellere Schießfolgen Usus sind. So kann die Gewichtung zwischen Schnelligkeit und Präzision auch von Industrie zu Industrie verschieden sein. Eines aber sollte klar sein: Am Ende will der Kunde immer beides: Schnelligkeit UND Präzision!
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Rainer Janßen | 31.03.2023