Eine Aufgabe des Managers ist es, sich in seinem Verantwortungsbereich immer wieder um die Organisation der Arbeit, der Abläufe, Zuständigkeiten, Vorgehensweisen, Methoden zu kümmern. Diese Arbeit ist niemals abgeschlossen, da sich einfach immer etwas ändert. Mal ändert sich das zu produzierende Gut oder die zu liefernde Dienstleistung, Werkzeuge und andere Produktionsmittel ändern sich, aber auch die übergeordnete Organisation des Gesamtunternehmens und damit die Schnittstellen der eigenen Organisation. Manchmal ändert sich auch nur die Zusammensetzung des Teams. Mitarbeiter, die vielleicht aufgrund langjähriger Erfahrung besondere Rollen eingenommen haben, scheiden aus. Oder es ändern sich einfach nur die Prioritäten der Einzelaufgaben in Ihrem Bereich.
Aus all diesen Gründen – und wahrscheinlich noch vielen mehr, die ich vergessen habe – sollten Sie es als Manager als selbstverständlichen Teil Ihres Aufgabenspektrums sehen und ganz regelmäßig in der Wiedervorlage liegen haben. Spätestens wenn Sie in irgendeinem Gespräch zwischen Mitarbeitern die Bemerkung hören „Das haben wir schon immer so gemacht!“, wissen Sie, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Handlungsbedarf besteht.
Oft habe ich hier eine Abwehrhaltung beobachtet. Man versucht solche Untersuchungen zu vermeiden, weil man die Veränderungen scheut, aber auch weil man sich davor fürchtet, im Ergebnis vielleicht mit weniger Mitarbeitern oder Budget auszukommen, bei diesem Prozess sich bei Mitarbeitern unbeliebt zu machen und vor allem auch in der eigenen Bedeutung, Macht und Einfluss zu schrumpfen. Das ist grundsätzlich eine schlechte Idee. Wenn ich Probleme auf die lange Bank schiebe, werden sie nur größer und schmerzhafter zu lösen. Aber vor allem wächst die Gefahr, dass mir das höhere Management, gar der Vorstand entweder die interne Abteilung für Betriebsorganisation oder gar externe Berater auf den Hals schickt. Und dann wird der Prozess erst wirklich unkontrollierbar und potentiell fürchterlich.
Deshalb nutzen Sie jede Möglichkeit zur möglichst minimal invasiven Analyse. So ist jeder neue Mitarbeiter ein guter Tester. Laden Sie ihn nach einigen Monaten mal zu sich ein und fragen Sie ihn, was ihm denn komisch oder besonders gewöhnungsbedürftig vorgekommen ist. Aber tun Sie es nicht zu spät, denn Sie werden erstaunt sein, wie schnell sich der Mensch auch an den letzten Unsinn gewöhnt und ihn zur Norm erklärt.
Bei all diesem Streben nach Verbesserung, sollten Sie sich auf der anderen Seite vor einem zu starken Streben nach Detaillierung und Optimierung hüten. In einer überoptimierten Organisation, in der alles absolut effizient läuft und alle Mitarbeiter zu 100% ausgelastet sind und alles glatt läuft – wenn alle Mitarbeiter gesund und nicht in Urlaub sind, wenn der normale erwartete Tagesbedarf abverlangt wird, wenn keine Sonderaufgaben kommen – da geht es am Ende zu wie auf einer dicht befahrenen Autobahn. Wenn da ein Autofahrer ein bisschen vor sich hinträumt, nicht sofort merkt, dass der Vordermann abbremst, dann heftig auf die Bremse steigt, so dass die folgenden Wagen nur knapp einen Auffahrunfall vermeiden und erst nach einem langen Durchschnaufen langsam wieder Fahrt aufnehmen, dann haben Sie plötzlich einen Stau. Und zwar oft einen sehr langen Stau. Wenn Sie da drin in Ihrem Auto neugierig auf das Stauende warten, denn da muss ja ein Riesencrash gewesen sein, wenn es einen so langen Stau gibt. Und dann fahren plötzlich die Autos wieder an, es gibt nichts zu gaffen, Stauende.
Diesen Effekt des sogenannten Spontanstaus können Sie auch in überoptimierten Firmen immer wieder erleben. Wenn das Call-Center immer zu 100% ausgelastet sein soll, haben Sie eine unendlich lange Warteschleife an der Telefonhotline. Wenn die Controlling-Abteilung eine Sonderanfrage vom Vorstand bekommt, ist plötzlich der Quartalsabschluss gefährdet. Wenn ein Mitarbeiter einen schweren Verkehrsunfall hat, dauert es eine Woche, bis sich das System wieder eingerüttelt hat. Ein Unternehmen, dass sich zu stark optimiert hat, jede überflüssige Ressource herausgeschnitten hat, nirgendwo mehr Reserven in den Prozessen hat, befindet sich irgendwann im Dauerstau. Jede nicht lange geplante Sonderanforderung, jede überraschende Veränderung führt zum sofortigen Zusammenbruch.
Die Suche nach dem Optimum ist eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Auf der Exponentialkurve hat sich sowieso die Welt verändert, bevor Sie mit dem Optimieren fertig sind. Wahrscheinlich sollte das Denken in Prozessen sowieso eher ein nachgeordneter Ordnungsschritt sein. Als etwa Banken versuchten, ihre Vertriebsprozesse immer mehr auf Selbstbedienungsterminals in den Banken und dann ins Internet zu verlegen, stellten sie fest, dass diese Prozesse je nach Produkt so verschieden waren, dass es schwer war, gemeinsame Schnitte in den Prozessen zu finden, wo es Selbstbedienung und wo menschlicher Unterstützung bedurfte. Bevor man die Einzelprozesse festgelegt, muss man die übergreifende Organisation – ihre IT-Abteilung redet da gerne von der Unternehmensarchitektur – passend auf den Gesamtunternehmenszweck ausgerichtet sein. Zerlegen Sie die Gesamtaufgabe des Gebäudes ein Teilelemente, in denen die Basisaufgaben verrichtet werden, um dann innerhalb der Teilelemente möglichst viel Flexibilität und Selbstorganisation zuzulassen.
Architektur meint dabei nicht so sehr die äußere Gestaltung des Gebäudes. Die unterschiedliche farbliche Gestaltung der Allianz-Arena in München ist nicht wichtig, sondern wie das ganze Gebäude strukturiert ist, inklusive Anfahrtswege und Zugängen, um mehr als 70.000 Besucher in angemessener Zeit, möglichst ohne Streit zwischen Fangruppen und ohne gefährliche Stockungen in Paniksituationen rein und wieder rausbringt. Architektur meint auch, dass Sie in einem Bürogebäude für sich verändernde Organisationen keine Zwischenwände aus Stein verwenden sollten, sondern Holzwände, die Sie erst nach dem Verlegen des Teppichbodens einbauen.
Kennen Sie den Münchener Flughafen? Wenn nicht, dann besorgen Sie sich davon eine Karte im Internet, etwa in Google Maps. Der Flughafen hat zwei Terminals. Eines im Osten für Lufthansa und das andere im Westen für den Rest. Nehmen wir mal an, Sie kommen mit dem Auto, selbstfahrend oder abgesetzt an. Beim Lufthansa-Terminal fahren Sie in ein riesiges Parkhaus. Es dauert einige Zeit, bis Sie den Parkplatz finden. Der Weg heraus bis zum Lufthansa Check-In ist lang. Sie gehen dann durch einen zentralisierten Check-In-Bereich und Security, dahinter sind dann alle Lounges und danach müssen Sie zu den weit verteilten Gates wieder lange laufen, eventuell sogar noch mit der U-Bahn zu einer weiter außen liegenden Gruppe von Gates Terminal fahren. Im anderen Terminal fahren Sie bei Ihrer Airline direkt vor oder ins Parkhaus, haben kurze Wege zum Check-In und danach kurze Wege zu Security und Gates. Die Basisbausteine oder Patterns wie Parkhaus, Check-In, Gepäckaufgabe, Gates sind dieselben. Nur die Bündelung ist eine andere: Das eine Terminal ist für den Reisenden optimal, das andere für Lufthansa. Wenn Sie Lust haben, stöbern Sie mal in dem Buch des Architekten Christoph Alexander: „A Pattern Language“. Dort zeigt der Autor, wie man aus Basisbausteinen sukzessive eine Funktionsarchitektur zusammensetzt und Sie bekommen so vielleicht ein bisschen ein Gefühl dafür, was die Kollegen in der IT-Abteilung denn meinen, wenn Sie Ihnen von der Unternehmensarchitektur erzählen. Informatiker und Mathematiker haben es meist ein wenig einfacher mit dem Thema, weil ihr Studium sich zu einem großen Teil mit dem Erkennen und Konstruieren solcher Ordnungsstrukturen befasste.
In ähnlicher Weise können Sie auch über die Architektur eines Unternehmens nachdenken. Es ist eine effektivere Art, Strukturen zu designen und zu beschreiben. Wichtig ist es dabei, immer die richtige Granularität zu finden. Zu viel Detail ist nicht nur Verschwendung, weil sich zu schnell etwas ändert und weil dann kein Schlupf in den einzelnen Blöcken besteht, um auf überraschende Ereignisse, Ausfälle, Bedarfsspitzen oder was immer zu reagieren, sondern es ist auch vollkommen unnötig. Auf diesen Ebenen sind unsere Mitarbeiter selbst viel besser als das Management in der Lage, die Arbeit flexibel und effizient zu verteilen. Schwierig wird es immer dann, wenn sich die Ausrichtung eines Unternehmens von seiner ursprünglichen Architektur entfernt. Der daraus resultierende Transformationsprozess wird lang und schwierig. Ein Haupttreiber vieler anstehender Architekturveränderungen ist dabei sicher die Digitalisierung. So glaube ich beispielsweise, dass der Ersatz des Verbrennermotors durch den Elektromotor für die Automobilindustrie weniger problematisch ist als die Tatsache, dass das Auto der Zukunft im Wesentlichen aus Software besteht. Und wenn das Auto endlich richtig autonom fährt, dann ist es nur noch zehn Quadratmeter mobiler Wohnraum. Geschwindigkeit spielt keine Rolle mehr, da ich ja die ganze Zeit für Arbeit, Entspannung oder Unterhaltung zur Verfügung habe, dafür ist eine kreative Inneneinrichtung mit Büro/Schlafsessel, guter Medien- und Computerausstattung sowie ein gut bestückter Kühlschrank wichtig!
Jedenfalls möchte ich Ihnen nahelegen, sich diesem Konzept Unternehmensarchitektur zu nähern. Es ist ein wenig sperrig und die wirklich gute Definition habe ich auch noch nicht gefunden, aber es ist den Aufwand wert. Gerade in Zeiten schneller Veränderungen bietet es den Denkrahmen, um den richtigen Ordnungsrahmen für ein Unternehmen zu finden.
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Rainer Janßen | 05.05.2023