Ein Freund von mir arbeitete lange als selbständiger IT-Berater in Süddeutschland unter anderem bei einem prominenten Großunternehmen. Eines Tages wurde er vom Management der IT in ein Krisenprojekt geschickt, das nicht richtig vom Fleck kam. Er stieß bald auf das Problem: Zwei Parteien im Team konnten sich nicht über die Wahl zwischen zwei Vorgehensweisen einigen. Nach jeder Studie für Option A kam bald die Studie von der anderen Seite für Option B. Darüber hinaus wollte aber auch niemand im Management dem Team die Entscheidung abnehmen, weil die Parteien firmeninterne politische Fronten repräsentierten. Mein Freund zog zur Überraschung des Teams eine Münze, fragte die Parteien nach Kopf oder Zahl und warf – und verkündete dann, wir machen Option B.
Es funktionierte dann sehr gut. Alle waren glücklich, endlich aus der Verklemmung herausgefunden zu haben, und durch die Zufallsentscheidung hatte niemand sein Gesicht verloren, weil Option A nicht argumentativ verworfen wurde. So weit so gut, aber was lernen wir aus dieser Geschichte?
Der Zufall spielt aber bei vielen Entscheidungen – durch uns für andere oder von anderen für uns – eine viel größere Rolle, als die meisten von uns glauben. Zumindest die Juristen haben in dieser Beziehung schon mal Selbstzweifel angemeldet, wie der Spruch „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“ zeigt. Dies liest man sehr eindringlich im Buch des Nobelpreisträgers Kahnemann mit den Koautoren Sibony und Sunstein „Noise“ (Siedler, 2021). Zahlreiche Untersuchungen tatsächlicher Urteile, aber auch viele kontrollierte Experimente, in denen man etwa vielen Richtern die gleichen hypothetischen Fälle vorgelegt hat, zeigen enorme Schwankungsbreiten in den Urteilen. So konnte ein Heroindealer je nach Richter zwischen einem und zehn Jahren verurteilt werden. Die Freiheitsstrafe für einen Bankräuber konnten zwischen 5 und 18 Jahren betragen. In einem Erpressungsfall reichten die Strafen von 20 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 65000 Dollar bis zu 3 Jahren Haft und keiner Geldstrafe. Auch Korrelationen zwischen der Außentemperatur oder dem Wochenendspiel des lokalen Footballteams und der Härte des Urteils konnten nachgewiesen werden.
In den USA wurden den Richtern deshalb ab Mitte der 80er Jahre Richtlinien an die Hand gegeben, die auch zu einer Konvergenz der Urteile führten. Als ITler würde ich sagen, dass die natürliche Intelligenz durch Ergänzung um ein wenig künstliche Intelligenz deutlich fairer gestaltet werden kann. Auf Grund des anhaltenden Widerstands der Richter – man muss doch jeweils den Einzelfall betrachten – haben die Leitlinien mittlerweile nur Empfehlungscharakter und die Spanne zwischen den Urteilen vergrößert sich wieder.
Nun könnte man vermuten, dass bei Gerichtsurteilen ja auch immer wieder die politischen, religiösen oder sozialen Hintergründe des jeweiligen Richters bei der großen Entscheidungsbandbreite eine Rolle spielen. Entscheidungen im Wirtschaftsleben werden sicher nüchterner, objektiver getroffen, weil hier die Entscheider doch von klarer gemeinsamer wirtschaftlicher Nutzenorientierung getrieben sind. Aber dem ist leider nicht so. Nicht nur sind Sie auch im Vorstand in Gottes Hand, sondern auch bei den Expertenentscheidungen gibt es zufällige Schwankungen, die Sie überraschen werden. So hat man anerkannte Experten von Versicherungsunternehmen um Einschätzung eines Risikos gebeten. Die Abweichung im Preis des gleichen Risikos durch zwei zufällig ausgewählte Underwriter des gleichen Unternehmens betrug im Mittel 55%! Und ein Vermögensverwalter, der seine Experten um Einschätzung des fairen Wertes einer Aktie eines fiktiven Unternehmens bat, stellte eine mittlere Abweichung von 41% fest.
In seinem bahnbrechenden Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Siedler 2012) stellt Daniel Kahnemann auf beeindruckende Weise dar, wie unfähig wir alle sind – auch und gerade die Experten -, zutreffende Urteile und Entscheidungen zu treffen. Es zahlt sich deshalb in wichtigen Entscheidungsprozessen immer aus, sie richtig vorzubereiten, Checklisten zu haben, woran man denken sollte etc. Wie viele Manager gehen beispielsweise relativ unvorbereitet in eine Serie von Einstellinterviews, ohne eine feste Liste von Fragen, die sie allen Kandidaten stellen? Und können deshalb am Ende die Ergebnisse der Interviews gar nicht vergleichen, weil sie sich mit jedem Kandidaten über ganz anderes unterhalten haben. Sie stellen dann oft den Kandidaten ein, mit dem sie sich am nettesten unterhalten haben! Wenn man sich wirklich einmal in der ganzen Breite vor Augen hält, wie unfähig der Mensch in der Regel ist, objektive und rationale Entscheidungen unter Einhaltung der Regeln der Logik und der Statistik zu treffen, wird man vielleicht irgendwann doch der Idee, die Entscheidungen mindestens durch Checklisten basierte Prozesse, Algorithmen, KI-Systeme oder ähnliches begleiten zu lassen, nicht mehr so skeptisch gegenüberstehen, wie viele es heute noch tun.
Entscheidungen sind also nahezu überall von zufälligen Störungen, persönlichen Geschmäckern und Vorlieben, Stimmungslagen und vielem anderem mehr abhängig. Sie sind nicht das Ergebnis strikt objektiver, quasi wissenschaftlicher Analyse. Trotz dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten muss der Manager immer wieder selbst Entscheidungen treffen, mit den Entscheidungen anderer leben, sie umsetzen und mit den Folgen möglicher falscher Entscheidungen umgehen.
In einer Organisation von Wissensarbeitern als Chef wirklich der Oberbesserwisser für alle Fragen zu sein, ist relativ unwahrscheinlich, auch wenn ich Kollegen kenne, die dies von sich glauben, aber Universalgenies sind doch seltener als manche Egomanen glauben. Trotzdem ist es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Managers, für eine Entscheidung zu sorgen und dann sogar noch die Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen.
Allerdings haben Mitarbeiter manchmal auch eine etwas naive Vorstellung von der Verantwortung und Fähigkeit des Managers, Entscheidungen zu treffen. Ich habe es immer wieder erlebt, dass ein Mitarbeiter zu mir kam, mir ein Problem schilderte, eine Idee für eine technische Lösung aufzeigte – und mich dann anschaute und erwartete, dass ich nun nicke und schnell eine E-Mail an alle schreibe, dass wir das nun so machen. Ich habe dann in der Regel zunächst einmal meine Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass bei so einem Vorschlag offenkundige Stakeholder vorher angesprochen wurden und deren Meinung mit eingebracht wird.
Allerdings sollte man die Entscheidung nun auch nicht unbedingt an die Hierarchie zurückdelegieren. Denn wie schon früher gesagt, ist die Hierarchie eine relativ langsame Entscheidungsmaschine. Deshalb zahlt es sich oft aus, wenn man sich das Vertrauen einer Reihe von Experten erarbeitet, die einem mal offen ihre Meinung sagen. Es geht hier nicht darum, eine Art Nebenregierung zu etablieren, sondern darum, die eigenen weißen Flecken auf der Wissenslandkarte zu überdecken. Es bleibt am Ende doch meine Entscheidung.
Was die Mitarbeiter auf jeden Fall genau beobachten, ist das Verhalten des Chefs, wenn die getroffene Entscheidung sich am Ende der Tage als erfolgreich oder fehlerhaft erweist. Vielfach erlebt man, dass bei Erfolg die Weisheit des großen Führers gelobt wird und im Fehlerfall die leider unfähigen Experten vorgeschoben werden, die einem falsche Ratschläge gegeben haben. Das kann man machen, aber nicht sehr oft.
Tatsächlich sollte es aber gerade andersherum sein. Der Erfolg gehört den Mitarbeitern, aber im Misserfolg muss der Anführer vorne im Gegenwind stehen. Natürlich kann man im internen Gespräch immer noch versuchen zu verstehen, wo man einen Einschätzungsfehler gemacht hat, etwas übersehen oder falsch eingeschätzt hat. Das ist durchaus legitim und etablierte Praxis. Aber wer sein Team in der Krise im Stich lässt und sich nicht schützend davorstellt, wird bald niemanden mehr finden, der sich für seine Themen einsetzt. Der folgende zynische und oft erzählte Witz zeigt, dass der Typus Chef sehr bekannt ist. Der Chef sagt zur Mannschaft: „Vor uns ist der Abgrund, aber ich stehe hinter euch! Und gemeinsam machen wir einen großen Schritt in die Zukunft!“
Das größte Problem bei vielen Entscheidungen ist aber für jeden Manager herauszufinden, welcher Kollege denn der Entscheidung zugestimmt, aber eigentlich das Ziel der Entscheidung nicht unterstützt. In der Politik wird immer die Steigerungskette „Freund, Feind, Parteifreund“ zitiert und es wäre ein Irrglaube, dass es diese Mischung aus Konkurrenzkampf und unterschiedlichen politischen Interessen in Wirtschaftsunternehmen nicht gäbe. Deshalb ist es vor allen größeren Entscheidungen immer ratsam, eine Stakeholder Analyse zu machen. Es zahlt sich im Verlaufe eines Projekts immer aus, sich genauer überlegt zu haben: Wer profitiert und wer macht die Arbeit? Wessen Zusagen sind eher Lippenbekenntnisse, im Krisenfall aber wenig wert? Oft sieht man die typischen Verhaltensweisen deutlicher von außen, bei einem anderen Unternehmen als in der eigenen Organisation.
So habe ich immer wieder große Dienstleisterverträge mit unterschiedlichen Lieferanten ausgehandelt. Schon während der Angebotsphase hat man gemerkt, dass es irgendwo beim Lieferanten knirschte. Es waren unterschiedliche Fraktionen des Lieferanten beteiligt, die in unterschiedlichem Umfang profitierten. Alle wollten zwar den Auftrag für das Unternehmen, aber ihre Motivation war durchaus unterschiedlich groß. Immer wieder war eine Organisation dabei, deren Kompetenz kritisch für das Projekt war, die aber nur einen kleinen Teil des Profits bekam. Würde die dann in der Krise wirklich ihren besten Mitarbeiter schicken? Es sagen zwar alle gerne in bestem Managerdeutsch, dass sie „committed“ sind, aber ich habe dann gerne mal gefragt, ob sie den Unterschied zwischen „being committed to a project“ und „to support a project“ wirklich kennen. Dann habe ich das am klassischen amerikanischen Frühstück Ham and Eggs erklärt: Das Huhn „supports the project“, aber das Schwein ist „really committed“. Daraufhin wurde das Wort dann deutlich weniger benutzt.
Entscheidungen treffen ist also ein schwieriges Geschäft und es gibt viele Fallen, in die wir tappen können. Bei allem Bemühen, Zufall, Politik, Irrationalität etc. zu kontrollieren und so zu einem rationalen und nachvollziehbaren Ergebnis zu kommen, fordere ich Sie aber Ende dennoch auf, Erfahrung und Bauchgefühl nicht zu ignorieren. Ich war beispielsweise bei Personalentscheidungen immer mal wieder in der Situation, dass ich objektiv nach Zeugnissen und Bewerbungsgesprächen einen Kandidaten quasi auswählen musste, aber irgendetwas kreiste in meinem Hirn und sagte: Lass es, Rainer. Tu es nicht! Und wenn ich dann doch für den Kandidaten entschieden habe, habe ich es manchmal bitter bereut. Sie sollen nun nicht einfach all die vorher mühsam erkämpfte Rationalität und Transparenz über Bord werfen, aber ignorieren Sie trotzdem diese Signale nicht. Versuchen Sie mindestens noch ein wenig Zeit zu gewinnen, ob Sie nicht doch dieses Gefühl etwas konkreter machen können. Sollten Sie sich dann doch entscheiden, Ihr Gefühl zu ignorieren, dann begleiten Sie die Umsetzung der Entscheidung in der ersten Zeit wenigstens etwas enger. Es wird sich erstaunlich oft lohnen, denn unser Gehirn hat schon manchmal merkwürdige Fähigkeiten, Unstimmigkeiten in Strukturen und Mustern zu erkennen.
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Rainer Janßen | 30.05.2023