Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Serie: Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Teil 29: Die Logik der Unvernunft

Ja, ich gebe es zu. Sie müssen den Text nicht erst zu einer Plagiatplattform schicken: Ich habe den Titel dieses Abschnitts geklaut. Es ist der Titel eines Buches von Laszlo Merö, ein ungarischer Mathematiker und Psychologe, der sich viel mit dem unvernünftigen Handeln von Menschen beschäftigt hat. 

Schauen wir uns mal ein Spiel an, das er in seinem Buch schildert: Die Versteigerung der Ein-Dollar-Note. Das Spiel wurde von Shubik erfunden und zunächst auf Partys gespielt. Das Mindestgebot ist ein Cent und es kann in beliebigen Stufen erhöht werden. Natürlich erhält der Meistbietende die Dollar-Note, aber der Zweibietende muss sein Gebot auch bezahlen. Im Durchschnitt endete die Versteigerung bei 3 Dollar 40 Cent. Manchmal aber auch erst, wenn die Brieftasche des einen Bietenden leer war, oft unter heftiger gegenseitiger Beschimpfung der beiden noch Bietenden und einmal auch in einem Ehekrach, wo die Ehepartner in getrennten Taxis nach Hause fuhren. 

Sie werden denken, dass dies ein ziemlich beklopptes Spiel ist und die Leute wahrscheinlich einfach nur besoffen waren. Aber tatsächlich spielen wir ein ähnliches Spiel im Wirtschaftsleben ziemlich regelmäßig. Wenn ich eine Reihe IT-Dienstleister informiert habe, dass wir bald eine große Big-Data Initiative starten werden, und sie einlade, sich an der Kandidatenschau zu beteiligen, lief das auch so ähnlich ab. Dann versuchen alle Kandidaten ihren Top-Experten aus Australien vorzustellen, machen eine Tour mit mir zu ihrem tollen Servicecenter in Mumbai, machen mal einen Testcase an einem Satz Probedaten usw. Wenn ich dann den zwei besten im bisherigen Prozedere erkläre, dass sie die Glücklichen sind, die an der endgültigen Ausschreibung teilnehmen dürfen, dann merken sie, dass sie den möglichen Dollar Gewinn an dem Projekt schon für das Marketing verbraucht haben. Und dann geht es weiter wie bei der Versteigerung der Dollar-Note. 

Sie können es aber nicht nur in spieltheoretischen Simulationen nachvollziehen, sondern auch in vielen sozialpsychologischen Experimenten zu wirtschaftlichen Verhandlungs- oder Kaufentscheidungssituationen. Der Mensch macht das nicht nur zufällig so, sondern er hat sogar oft eine Systematik dahinter, verhält sich also mit einer klaren Begründung eigentlich unvernünftig irrational oder, wie es Dan Ariely in seinem Buchtitel sagt: Vorhersagbar irrational!  

So beschreibt er eines seiner Experimente, bei dem er Pralinen vom Schweizer Hersteller Lindt und Herschey´s Kisses vor einem großen öffentlichen Gebäude in Toronto verkaufte. Lindt ist ein Schweizer Qualitätsproduzent, der 1879 die Conchiermaschine erfunden hat, die die zart schmelzende Schokolade von Heute erst möglich gemacht hat, und Herschey, ein amerikanischer Massenproduzent. Die Lindt Pralinen sind teuer und wurden zu einem sehr guten Preiss von 15 Cent verkauft. Die Kisses gab es für einen Cent. 73 Prozent der Kunden kauften die Lindt Praline. Als man den Preis auf 14 Cent für Lindt und auf UMSONST für Herschey`s Kisses veränderte, entschieden sich plötzlich nur noch 31 Prozent für die Lindt Praline. Man kann dies in vielen anderen ökonomischen Situationen nachvollziehen: Wenn es etwas umsonst gibt, setzt die vorher, selbst bei geringen Preisen wie ein Cent, noch stattfindende Kosten-/Nutzen-Analyse aus und der Verbraucher beginnt, sich eigentlich irrational zu verhalten.      

Warum erzähle ich Ihnen das? Die Betriebswirtschaftslehre hat als Grundbaustein vieler Theorien den „homo oeconomicus“ erfunden, den absolut rational handelnden Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen. Ich möchte, dass Sie sich von dieser Vorstellung verabschieden. Dieser ist eher ein Mythos als ein in der Realität vorkommendes Wesen. 

Wer das Wirtschaftsteil der Tageszeitungen liest, die Berichte über Firmenfusionen und Firmenkäufe, Produktentscheidungen oder Spielerkäufe im Profifußball, der weiß, dass hier Unvernunft am Werke ist, und zwar mit System.  

Wer die Übernahme von D2 Mannesmann durch Vodafone mitverfolgt hat, den Kampf zwischen Piech und Wiedeking, ob Porsche VW – oder VW Porsche schluckt, die Versteigerung der ersten Mobilfunklizenzen, Monsanto und, und, und …, der weiß, dass die Rationalität immer mal wieder vor der Türe zur Vorstandssitzung abgegeben wird. 

Und wer die Entwicklung der Bitcoin-Kurse oder das Platzen der Dotcom-Blase beobachtet hat, kann kaum zu dem Schluss kommen, dass hier durchgängig rational und ökonomisch vernünftig gehandelt wurde. Wenn man sich anschaut, welche Autos gebaut und verkauft werden in Märkten, in denen man nicht mehr als 100 km/h fahren darf, dann muss doch der letzte Zweifel an der allgemeinen Unvernunft schwinden.  

Wir neigen dazu, unlogische, irrationale Entscheidungen im politischen Raum für ein normales Phänomen zu halten, haben aber einen tiefen Glauben, dass es in der Wirtschaft doch irgendwie am Ende vernünftig zu geht, aber dem ist nicht so. Dabei ist aus meiner Sicht noch nicht einmal das größte Problem, dass der Mensch, wie es Ariely und Kahnemann in ihren Büchern beschreiben, zu bestimmten fast systematischen Denkfehlern und Irrationalitäten neigt, sondern das größte Problem ist, dass sie dann aus reiner Sturheit und Egozentrik ihre einmal gefasste Meinung nicht mehr ändern können. 

In einem Lehrgang erzählte uns der Lehrer folgende Geschichte: Ein Mann fuhr an einem Sonntag sehr früh zu einem einsamen Parkplatz am Fuß eines Berges. Um 7 Uhr stieg von dort auf einem engen Weg 1000 Meter hoch zu einer einsamen Berghütte, wo er eine Woche meditierte. Am nächsten Sonntag ging er um 7 Uhr von der Hütte den gleichen Weg zum Parkplatz zurück. War er zu irgendeiner Uhrzeit an den beiden Sonntagen am gleichen Ort? Wir sollten uns spontan für ja/nein entscheiden. Anschließend sollte immer abwechselnd ein Vertreter der beiden Gruppen – sie waren etwa gleich stark – die andere Gruppe überzeugen. Selbst als ein Kollege einen sehr anschaulichen, quasi mathematischen Beweis fand, dass „ja“ die richtige Antwort sei, gab es kaum Wechsel zwischen den Gruppen. Man fand nur immer sophistischere Definitionen für gleiche Zeit und gleichen Ort bis zu den Schuhspitzen, die ja einmal nach unten und einmal nach oben zeigen.  

Obwohl es doch nur eine einfache Spielsituation war, zeigten wir – allesamt junge, aufstrebende IBM Manager – ein sehr typisches und gleiches Verhalten: Es ging nicht mehr um richtig oder falsch, sondern es ging darum, die Diskussion zu gewinnen. Und wenn es dann erst einmal in dieser wechselseitigen Versteifung steckt, ist es verdammt schwer, da wieder herauszukommen. Das gilt übrigens nicht nur für Diskussionen zwischen Managern, sondern genauso für Diskussionen zwischen Managern und Betriebsräten. 

Und dann kommt noch eine weitere Ebene der Irrationalität hinzu, mit der wir meistens gar nicht rechnen, denn im Unternehmen sind wir ja alle Profis und diskutierten auch unsere Sachprobleme mit den Kollegen immer nüchtern und professionell. Blöde, unsachlich, beleidigt, unlogisch, unvernünftig, kindisch sind wir nur zu Hause im Umgang mit unserem Partner, den Kindern oder dem Nachbarn?!  Pustekuchen! Viele der kleinen Spielchen, die wir immer so gerne miteinander spielen, spielen wir nicht nur zu Hause, sondern auch im Beruf. Der Klassiker zu diesem Thema stammt von dem amerikanischen Psychiater Eric Berne aus dem Jahre 1964 und heißt „Games People Play“ (auf Deutsch „Spiele der Erwachsenen“). Viele – mindestens der älteren Leser – kennen den durch dieses Buch motivierten Song mit dem gleichen Titel von Joe South aus dem Jahre 1968. Es gibt sicher modernere Bücher zu dem Thema, aber ich finde den Klassiker eigentlich immer noch als lesenswert und anregend. Wie bei fast jedem Klassiker gibt es natürlich Stellen, die man nach heutigem Verständnis so nicht mehr schreiben würde, aber wer darüber hinwegsehen kann, wird die Lektüre sicher als Bereicherung empfinden.    

Wegen dieser ganzen Unwägbarkeiten gibt es in Abwandlung einer alten Juristenweisheit den Spruch „Im Vorstand und auf hoher See bist Du in Gottes Hand“. Ich kenne kein Rezept wie man dies Problem umgehen kann. Man muss diese Unvernunft und Irrationalität wohl als einfach menschlich akzeptieren. Es hilft jedenfalls, wenn man sich darauf geistig vorbereitet hat und nicht überrascht ist, wenn eine Managementdiskussion sehr erstaunlich unlogische Verläufe nimmt.  

Ich will Ihnen hier wenigstens ein kleines Beispiel geben, wie man solche Irrationalitäten beispielsweise in die Vorbereitung einer wichtigen Managementrunde, etwa einer Aufsichtsratssitzung, einbeziehen kann. Die Aufsichtsräte sind wichtige Menschen. Wichtige Menschen wollen aus so einer Sitzung mit dem Gefühl herausgehen, einen Beitrag geleistet zu haben. Dazu müssen sie irgendwann auch einmal etwas gesagt haben. Wenn also irgendwann in der Sitzung über die große Zig-Millionen-Investition entschieden werden soll, stelle sicher, dass es davor genug Tagesordnungspunkte gibt, bei denen jeder etwas sagen kann. Beispielsweise wäre die Schaffung eines Fahrradparkhauses vor dem Werktor ein gutes Thema. Dazu fällt sicher jedem etwas ein, wie die Notwendigkeit von E-Bike Ladestationen, eines Waschplatzes oder eines Servicecenters für Reparaturen!     

Ansonsten bleibt uns nur die Hoffnung auf die KI! Vielleicht wird ja doch alles etwas vernünftiger, wenn endlich die vielgescholtenen Algorithmen entscheiden!? 

Fragen, Feedback und Kommentare zu diesem Beitrag senden Sie bitte an r.janssen@acent.de

Rainer Janßen | 09.06.2023

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